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Kellerwelt

Kellerwelt

Titel: Kellerwelt
Autoren: Niels Peter Henning
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musste
wissen, wohin sie zu gehen hatte. Der Chef würde sie danach fragen und sie
wollte eine Antwort parat haben.
    Tief durchatmen und
nachdenken. Was hatte sie zu tun? Was wurde von ihr erwartet? Sie ließ diesem
Drang in ihrem Inneren freien Lauf und wartete ab, wo dieses Gefühl enden
würde. Und plötzlich stand ein Gedanke glasklar hinter ihrer Stirn: Sie musste
zum Loch.
    Peng!
    Damit verabschiedete sich
ihre gute Laune. Der Drang blieb, doch die Freude verflog wie ein Furz im
Sturm. Ausgerechnet das Loch. Sie war bereits zweimal dort gewesen, beide Male
völlig umsonst. Beim ersten Mal hatte es ihre Zielperson nicht geschafft, beim
zweiten Mal hatte sie einen echten Idioten aus dem Loch gezogen. Und nun musste
sie wieder dorthin. In diesem Augenblick wünschte sie sich, sie hätte den
Auftrag ablehnen können. Doch das konnte sie nicht. Das konnte niemand. Ihr
blieb nichts anderes übrig, als ihren Weg zum Chef fortzusetzen und direkt im
Anschluss zum Loch aufzubrechen.
    Der Chef saß sicherlich
wieder in der Kantine. Seit es nichts mehr zu tun gab, saß der Chef immer in
der Kantine. Auf dem Weg dorthin musste sie den Zentralplatz der Siedlung
überqueren. Als sie durch das Labyrinth der Materialstapel stapfte und
verschiedenen Arbeitern auswich, gesellte sich ein Mann zu ihr und begleitete
sie ein Stück. Olivfarbener Overall - ein Kartograph.
    „ Na, hast es wohl eilig,
hm?"
    Sie erkannte die Stimme. Dieser
Kartograph hatte sie zwei- oder dreimal begleitet, als sie noch dabei waren,
das Gebiet zu erkunden. Sie mochte den Kerl nicht. Er sah aus wie eine zu groß
geratene Vogelscheuche. Außerdem redete er zu viel. Sie wunderte sich, weswegen
er noch lebte. Sie hatte viele Typen wie ihn kennen gelernt. Keiner von ihnen
hatte lange überlebt. Sie wunderte sich, wie es dieser hier geschafft hatte,
bis jetzt am Leben zu bleiben. Eigentlich hätte er längst tot sein müssen.
    Stattdessen lief er neben
ihr her und überschüttete sie mit Text. Wie sehr er sich doch langweile und wie sehr er sich freue, eine alte
Weggefährtin zu treffen. Es seien ja so viele alte Gefährten ums Leben gekommen
und in der Siedlung gebe es so viele neue Gesichter.
    Sie versuchte, das Geschwafel
auszublenden. Wenn sie schon einem Kartographen begegnen musste, warum hatte es
dann dieser Idiot sein müssen? Gegen das Panzerchen hätte sie nichts gehabt.
Mit dem hätte sie sich wenigstens richtig unterhalten können. Aber nein, sie
hatte ausgerechnet auf einen Dummschwätzer treffen müssen. Einen hässlichen
Dummschwätzer.
    Schließlich bog der
Kartograph zwischen zwei Materialstapeln ab. „Entschuldige, aber ich muss hier
drüben weiter. War schön, mit dir zu plaudern. Vielleicht können wir bald mal
wieder gemeinsam losziehen."
    Sie hob kurz ihre linke
Hand, um der Höflichkeit Genüge zu tun. Sie mochte diesen Typen zwar nicht,
doch sie wollte ihn nicht verärgern. Am Ende musste sie tatsächlich irgendwann
noch einmal mit ihm losziehen. Dann wollte sie ihn nicht zum Feind haben.
Außerhalb der Siedlung musste man sich auf seinen Partner verlassen können.
    Nach einigem Geschlängel
zwischen den Materialstapeln und einem flüchtigen Gruß hier und dort erreichte
sie schließlich die Kantine. Der Chef saß auf seinem Stammplatz und hielt eine
Flasche in der Hand - wie immer. Ihm gegenüber hatte ein Beschaffer Platz
genommen. Insgeheim beneidete sie die Beschaffer. Sie hatten immer etwas zu
tun. Rückten immer wieder aus, um die Räume in der Nähe der Siedlung nach
verwertbarem Material zu durchsuchen. Mussten sich dabei nicht einmal in Gefahr
begeben, weil sie nur auf bekanntem Gelände unterwegs waren. Es gab Momente, in
denen hätte sie gerne mit einem Beschaffer getauscht. Allerdings nicht mit
diesem dort. Der schien nämlich ein Problem zu haben.
    Der Beschaffer redete auf
den Chef ein und gestikulierte dabei, als wolle er einen Mückenschwarm
verscheuchen. Der Chef hörte zu und nickte von Zeit zu Zeit. Nebenbei lutschte
er an seiner Flasche. Sie würde warten müssen, bis der Chef den Beschaffer
abgefertigt hatte.
    Es war nicht viel los in der
Kantine. Die meisten waren bei der Arbeit. Deswegen musste sie nicht lange nach
einem freien Tisch suchen. Sie mochte sich nicht zu einer der Gruppen setzten,
die sich an anderen Tischen gebildet hatten. Sie kannte zwar viele Leute vom
Sehen, doch ihr stand nicht der Sinn nach einer Unterhaltung. Sie brütete
lieber alleine vor sich hin und verdaute die Enttäuschung über ihre
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