Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Keine Angst

Keine Angst

Titel: Keine Angst
Autoren: Frank Schätzing
Vom Netzwerk:
die Gestalt eines alten Weibes hat, und daß auf dem Feld gleich gegenüber weiße Blüten leuchten; – und doch beschwörst du nur das Abbild der Erinnerung. Dunkelheit und Nebel aber ziehen magische Grenzen, jenseits derer nichts von Gültigkeit ist. Alles könnte dort auf dich warten oder weniger als nichts, wie es den Göttern gerade einfällt. Du hast keinerlei Beweise, daß die Welt noch existiert, sobald sie deinem Blick entschwunden ist, und jeder weitere deiner zögerlichen Schritte ins vermeintlich Bekannte ist ein Schritt in die Zwischenwelt …
    Vrrroooommmmm!
    Gabbert! Vollgas!
    Wer sonst hat es geschafft, drei Tauben plattzufahren, die eines Tages auf der Moltkestraße herumspazierten? Mit ruckenden Köpfen, pickend, nicht ahnend, daß da einer käme, das Gesetz zu brechen, wonach Tauben immer – immer! – in letzter Sekunde den Abflug schaffen! Drei platzende Bäuche, rotklebriger Gefiederbrei, eine Frau mit vollgespritztem Kleid, die sich unverzüglich daranmacht, den Rinnstein vollzukotzen, als wolle sie aus purer Solidarität nun auch ihr Inneres nach außen kehren, während Gabbert, die Augen begeistert an den Rückspiegel geheftet, mit gellendem Lachen weiterdrischt.
    Zweihundertzwanzig, der Tacho. Die weiße Naht des Mittelstreifens, hin und her peitschend, eingesaugt von der allmächtigen Maschine, zerhackt und wieder ausgespien. Gabbert jubelt und dreht das Radio lauter: The Prodigy, fire Starter. I’m a fire Starter, I’m a fire Starter …
    »I’m a fire Starter!«
    Das klingt falsch, wunderbar daneben. Gabbert preßt sich in den Sitz, brüllt den Refrain mit, schließt einen Moment die Augen.
    Und muß gähnen.
    Was? Er? Müde? Bei Zweihundertzwanzig?
    Die Scheinwerfer erfassen eine Gestalt am Wegesrand, die rasch größer wird. Gestikulierende Arme, jemand, dessen Mund mindestens so sperrangelweit aufsteht wie der von Gabbert, oder bildet er sich das ein, wie kann er bei der Geschwindigkeit überhaupt solche Details erkennen …?
    Zu den wirklich erhebenden Momenten im Leben eines Besessenen gehört, einen zweihundertzwanzig Stundenkilometer schnellen Wagen innerhalb weniger Sekunden auf Null abzustoppen. Gabbert steigt mit allem, was er hat, auf die Bremse. Er mag betrunken sein, aber sein Reaktions-vermögen schaltet sich ein wie eine automatische Reserve. Noch während der Golf mit quietschenden Reifen kurz hinter der Gestalt zum Stehen kommt, fragt er sich, warum er nicht einfach weiterfährt. Er hat noch nie für Anhalter gestoppt. Sie könnten den Wagen verschmutzen, ein Messer hervorziehen, ihm dämlich kommen. Anständige Menschen haben keinen Grund, nachts rumzustreunen und Autos anzuhalten. Anständige Menschen fahren selber.
    Aber Gabbert steht. Souveränes Manöver. Kann zufrieden sein. Er entspannt sich, schiebt den Kopf in den Nacken, bis es knackt, und wartet.
    Die Gestalt nähert sich im Seitenspiegel. Gabbert entsinnt sich zur Vorsicht der Zentralverriegelung. Beidseitiges leises Schnappen, um den Bruchteil einer Sekunde versetzt. Beruhigend.
    I’m a fire Starter …
    Er dreht das Radio leiser. An der Seitenscheibe ist ein Klopfen zu hören. Er wendet den Kopf und erblickt Gesicht und Oberkörper eines Mannes. Aus einer Platzwunde oberhalb der rechten Braue sind Ströme von Blut geflossen, so daß man die Züge des Fremden kaum erkennen kann. Augen und Mund sind angstvoll aufgerissen, das Haar hängt ihm strähnig in die Stirn, seine Finger, die stetig, in kurzen Intervallen, gegen die Scheibe hämmern, sind zu Klauen verkrümmt.
    Gabbert läßt ihn klopfen und überlegt, was er als nächstes tun soll. Weiterfahren? Warum hat er überhaupt angehalten? Vage beschleicht ihn die Vorstellung, etwas habe ihn dazu veranlaßt. Kurzzeitig die Kontrolle übernommen. Daß er hier steht, ist gegen seine Natur. Gabbert stoppt nicht für Anhalter, hat er noch nie getan. Warum jetzt?
    Die Gestik des Mannes, überlegt er. Der verwischte Eindruck von Vertrautem. Wiedererkennen, aber nicht zuordnen können. Das ist es! Er hat den Mann schon mal gesehen. Pavlov’scher Effekt.
    Oder doch nicht?
    Wahrscheinlich Einbildung. Durcheinander im Kopf von zuviel Geschwindigkeit.
    Der hier wird ihm jedenfalls den Wagen versauen, soviel steht fest. Überdies gefällt es Gabbert gar nicht, mitten in der Nacht in etwas verwickelt zu werden, das Menschen so zurichtet. Da er nun aber schon mal angehalten hat, gefällt es ihm ebensowenig, das arme Schwein in der Kälte stehen zu lassen. Man ist ja
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher