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Kein Wort mehr ueber Liebe

Kein Wort mehr ueber Liebe

Titel: Kein Wort mehr ueber Liebe
Autoren: Herve Le Tellier
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eine echte Leserin, kritisch und feinfühlig, sie hätte es abscheulich gefunden, wenn er sie enttäuscht hätte, wenn er wie ein Produzent von Dutzendware geschrieben hätte, aber wahrscheinlich war sie ohnehin nicht in dem Zustand, enttäuscht zu werden. Sie mag es, wie er über die Liebe zu sprechen weiß. Aber nicht diese Formulierung benutzt sie an jenem Morgen: Sie sagt »über Liebe sprechen«. Thomas schreibt das auf.
    Denn Thomas hört aufmerksam zu, achtet sogar auf Kleinigkeiten. Dies ist eine der morgendlichen Sitzungen, bei denen er fast gar nichts sagt, bei denen er Anna Stein nur einige Sätze wiederholen lässt, damit sie sich später klarmachen kann, dass es genau diese Sätze waren, die sie ausgesprochen hat. Er notiert sie, klassifiziert sie, ordnet sie. Sollte sie sie vergessen, wäre es an ihm, sie ihr wie ein guter Grundlinienspieler beim Tennis wieder zuzuspielen. Lange Jahre der Praxis haben ihn von der zentralen Bedeutung der Sprache überzeugt, aber er misstraut allzu wörtlichen Interpretationen.
    Thomas interessiert sich für Yves: Ist er nicht selbst dieser reife Mann, der sich in eine junge Frau vernarrt? Vielleichtwird er eines seiner Bücher lesen, warum nicht gar jenes, das Anna Stein so überzeugt hat? Von guten Büchern lernt ein aufmerksamer Mensch stets mehr, und schneller, als vom Leben. Womöglich deswegen, weil es eine starke Analogie zwischen der Psychoanalyse und dem Schreiben gibt. Der Schriftsteller wie der Analytiker will gehört, will anerkannt werden und fürchtet, vom Denken und von der Sprache verschlungen zu werden. So nimmt Thomas Yves wahrscheinlich auch wie sein Doppel, sein Spiegelbild wahr. Und vielleicht ist selbst Anna Stein an diesem Wendepunkt der Analyse die Möglichkeit dieser Lesart bewusst. Thomas hat plötzlich die Befürchtung, seine eigene Geschichte könne sich unbemerkt zwischen Anna und ihn einschleichen. Bei dem Elan, der ihn Louise Blum zutreibt, bekommen die Worte von Anna Stein einen ungewöhnlichen Klang. Er muss darauf achten, seine Distanz zu wahren.

THOMAS UND LOUISE
    Die Sitzung ist zu Ende, als der Bildschirm des Mac diskret aufblinkt.
    Name und Vorname werden in nachtblauer Farbe angezeigt: Louise Blum. Sie hat schon geantwortet. Thomas fühlt, wie seine Atmung sich beschleunigt, er ärgert sich darüber. Er begleitet Anna hinaus, verabschiedet sie mit kalkulierter, oder besser: mit gedehnter Langsamkeit. Er schaut zu, wie sie sich entfernt, findet ihren Po wirklich sehr hübsch geformt. Zwar ist der Psychoanalytiker für den Analysierten keine wirkliche Person, aber Thomas ist es immer schwergefallen, in Anna Stein lediglich eine Dame ohne Unterleib zu sehen.
    Dann schließt er die Tür, kehrt zum Computer zurück. Seine gespielte Ruhe steht in umgekehrt proportionalem Verhältnis zu seiner Ungeduld. Der Posteingang ist geöffnet, er wartet noch einige Augenblicke, als ob das Hinauszögern der Lektüre den Inhalt der Post beeinflussen könnte. Er wirft sich diesen Überrest von magischem Denken vor, hat aber seit langem eingesehen, dass er sich nie vollständig davon wird befreien können. Schließlich klickt er. Die Mail ist herzlich, kein Zweifel, ohne jedoch ganz seine Erwartungen zu erfüllen. Louise spricht den »sehr sympathischen« Abend an, sieplane ein Essen, »sehr sehr bald«, mit ihren gemeinsamen Freunden. Thomas fürchtet plötzlich, sich getäuscht zu haben, dass sie ihm womöglich ihren Ehemann vorstellen will, ihre Kinder, sieht sich schon in den Rang eines Freundes zurückversetzt, oder, schlimmer, eines Freundes der Familie. Er antwortet, höflich, vorsichtig, dass er sie mit Freuden wiedersehen wolle, vielleicht aber eher ein Mittagessen? Ein Mittagessen hält den Ehepartner stets in Entfernung. Er hofft, dass sie begreifen wird. Ihre Antwort kommt fast umgehend: »Ein Mittagessen, ja. Morgen bin ich frei. Sonst nicht vor nächster Woche«, steht in der Nachricht. Thomas lächelt, er antwortet: »Wo morgen?« Wusch und weg. Kaum eine Minute später die Antwort: »Morgen, 13 Uhr, Café Zimmer, am Châtelet.«
    Er wagt jetzt eine letzte Mail:
    »Einverstanden, morgen. Weißt Du, gestern habe ich Truffauts
Baisers volés
noch mal gesehen. Die letzte Szene hatte ich schon ganz vergessen: Claude Jade und Jean-Pierre Léaud beim Frühstück nach einer Liebesnacht. Sie streichen Butter auf den Zwieback, trinken Kaffee. Er bittet um ein Heft, einen Bleistift, sie gibt ihm beides: Er schreibt ein Wort oder zwei, reißt die
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