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Kein Wort mehr ueber Liebe

Kein Wort mehr ueber Liebe

Titel: Kein Wort mehr ueber Liebe
Autoren: Herve Le Tellier
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zurück. Erst eine Woche später tritt er wieder vor die Tür, er ist glatt rasiert, von seinem schwarz gelockten Haar ist fast nichts mehr zu sehen. Er nimmt das Studium wieder auf, sein Studium. In dem Moment, da dieseErzählung beginnt, zeichnet, gar nicht weit vom Jardin du Luxembourg entfernt, eine Kupferplatte, die an den Eingang des Hauses Nr. 28 in der Rue Monge geschraubt ist, seinen Werdegang nach.
    DR. THOMAS LE GALL
    Psychiater, Psychoanalytiker,
    Approbation der
    Psychiatrischen Kliniken Paris
    Die Kupferplatte entwirft ein sehr professionelles Bild von ihm, aber schließlich ist Thomas Le Gall heute sehr professionell.
    In der vierten Etage, linke Tür, ist aus einer normalen Dreizimmerwohnung eine Psychoanalytikerpraxis geworden. Thomas hat die moderne, geräumige Küche so belassen, wie sie war. Zuweilen isst er dort eine Frühlingsrolle, die er beim Chinesen gekauft hat. Das Schlafzimmer, links vom Eingang, ist heute das Wartezimmer: Das gewachste Parkett, zwei tiefe Sessel und ein niedriger Tisch verleihen dem Ganzen die täuschende Atmosphäre eines englischen Clubs; aus dem vorhanglosen Fenster schaut man auf die Straße. Zwischen den dreißigminütigen Sitzungen liegt jeweils eine Stunde, die Patienten begegnen sich nicht. An festgelegten Tagen empfängt Thomas im großen Salon: Wenn nicht die Jalousien aus exotischem Holz das Licht dämpften, hätte man freien Blick auf den Himmel und die Platanen im Hof. Schwarzer Samt verhüllt die Türe, das Olivgrün des Diwans soll entspannendwirken. Afrikanische Masken überwachen wohlwollend den Raum, so wie die Moai-Statuen, den Rücken zum Meer gewandt, die Osterinseln bewachen. Hinter dem Louis-Philippe-Schreibtisch hängt, bläulich-grau, eine Industrielandschaft von L. S. Lowry, an der verbleibenden Wand ein sehr kleines und sehr dunkles Gemälde von Bram van Velde, das auf die Zeit seiner Freundschaft mit Matisse zurückgeht. Dies ist das einzige Werk von Wert. Thomas hat es bei Drouot erstanden, zweifellos ein wenig zu teuer – was immer es heißen mag, für Kunst zu viel Geld auszugeben –, um je wieder auf die Idee zu kommen, etwas bei Drouot zu kaufen.
    Thomas ist sich darüber im Klaren, dass er in diesem Raum die Karikatur einer psychoanalytischen Praxis reproduziert hat. Immerhin hat er dem Patienten die Dogon-Statue und den genagelten Fetisch erspart. Aber das Dekor ist nicht ohne Bedeutung, und Thomas achtet darauf.
    Auf dem hohen und langen Bücherregal an der letzten Wand tritt die Literatur in friedlichen Wettstreit mit der Psychoanalyse. Joyce steht neben Pierre Kahn, Leiris zwängt sich neben Lacan, ein Queneau – schlecht einsortiert, was ein gutes Zeichen für ein Buch ist – lehnt sich an Deleuze. Als Queneau starb, war Thomas nicht mal fünfzehn Jahre alt.
Si tu crois xava, xava xava va, xava durer toujours la saison des za la saison des zamours … (Wenn Du gla, wenn Du glagla, wenn Du glaglagla lala, wenn Du glaubst, dass die Zeit der Lie, der Liehiebe ewig währt …)
Seit langer Zeit schon glaubt Thomas Le Gall nicht mehr daran. Die Falten werden tiefer, das lockige Haar, inzwischen eher Salz als Pfeffer, zieht sich immer weiter von der Stirn zurück, das Gesicht wird fülliger, schwemmt ein wenig auf, der ehemals Vierzigjährige ist aufbestem Wege zum Mann von sechzig Jahren und bereitet sich auf noch Schlimmeres vor.
    Auf der halbrunden Kaminuhr ist es neun. Thomas hat den Mechanismus des Glockenspiels außer Kraft gesetzt, um die Dauer der Sitzungen selbst zu kontrollieren. Thomas sitzt geduldig wartend im Sessel. Er liest
Le Monde
vom Vorvorabend, räumt ein paar Papiere auf. Sein erster Termin hat Verspätung. Anna Stein kommt immer zu spät. Zwei, zehn, manchmal fünfzehn Minuten, und stets aus gutem Grunde: der Babysitter, der nicht kam, die Pariser Staus, kein Parkplatz. Thomas hat ihr eine andere Uhrzeit vorgeschlagen, sie hat abgelehnt. Willst du gelten, mach dich selten? Thomas vertraut der Weisheit der Sprichwörter.
    Anna Stein. Eine zwölfjährige Analyse, die auf ihr Ende zugeht. Die ersten Jahre hat Anna, wie viele andere, nur erzählt. Sie hat ihr Leben ausgebreitet, dann, als ihre Erinnerungen ausgeschöpft waren, nach jedem kleinsten Fetzen in ihrem Gedächtnis gegrapscht, sich wie eine versiegte Quelle gefühlt, im wörtlichen Sinne vertrocknet, hing ein Jahr lang, vielleicht auch etwas länger, in der Luft. Erst als sie sich geschlagen geben musste, erst als sie ihn voller Wut anbrüllte: »Aber was
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