Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kein Engel so rein

Kein Engel so rein

Titel: Kein Engel so rein
Autoren: Michael Connelly
Vom Netzwerk:
hielt den größten Teil des Lichts ab, bevor es nach unten kam. Mithilfe der Taschenlampe arbeitete sich Bosch in der Richtung, in der er den Hund durchs Unterholz hatte preschen hören, den Abhang hinauf. Es war langwierig und mühsam. Der abschüssige Boden war von einer dreißig Zentimeter dicken Nadelschicht bedeckt, die immer wieder unter den Sohlen seiner Stiefel nachgab, wenn er darauf Halt suchte. Weil er sich, um nicht zu fallen, ständig an Zweigen festhalten musste, klebten seine Hände schon nach kurzem von Harz.
    Für die ersten dreißig Höhenmeter brauchte Bosch fast zehn Minuten. Dann wurde das Gelände flacher, und weil sich die hohen Bäume lichteten, wurde auch das Licht besser. Er blickte sich nach dem Hund um, konnte ihn aber nirgendwo entdecken. Obwohl er die Straße und Dr. Guyot nicht mehr sehen konnte, rief er nach unten: »Doktor Guyot? Können Sie mich hören?«
    »Ja, ich höre Sie.«
    »Pfeifen Sie dem Hund.«
    Dann hörte er einen dreiteiligen Pfiff. Er war deutlich hörbar, aber sehr leise. Offensichtlich fiel es ihm genauso schwer wie dem Sonnenlicht, durch die Bäume und das Unterholz zu dringen. Bosch versuchte, den Pfiff nachzumachen, und nach ein paar Malen glaubte er, ihn richtig hinzubekommen. Aber der Hund kam nicht.
    Bosch ging weiter, blieb aber auf dem flacheren Gelände, weil er glaubte, dass jemand, der eine Leiche vergraben oder loswerden wollte, das eher auf ebenem Untergrund versuchen würde als an einem steilen Abhang. Dem Weg des geringsten Widerstands folgend, steuerte er auf ein Akaziengehölz zu. Und dort entdeckte er sofort eine Stelle, an der vor kurzem die Erde aufgescharrt worden war, als hätte ein Tier oder jemand mit einem Werkzeug planlos im Boden gewühlt. Bosch stocherte mit der Fußspitze in der Erde und den Zweigen, und dann merkte er, dass es keine Zweige waren.
    Fr ließ sich auf die Knie nieder und betrachtete im Schein der Taschenlampe die kurzen braunen Knochen, die über eine Fläche von etwa dreißig mal dreißig Zentimetern verteilt waren. Er glaubte, die losen Finger einer Hand vor sich zu haben. Einer kleinen Hand. Einer Kinderhand.
    Bosch richtete sich auf. Er merkte, dass ihn sein Interesse an Julia Brasher abgelenkt hatte. Er hatte nichts mitgenommen, um die Knochen einzusammeln. Sie einfach mit bloßen Händen aufzuheben und den Hügel hinunterzutragen hätte gegen die primitivsten Grundregeln der Sicherstellung von Beweismitteln verstoßen.
    Die Polaroid-Kamera hing an einem Schnürsenkel um seinen Hals. Er hob sie an sein Gesicht und machte eine Nahaufnahme von den Knochen. Dann trat er zurück und machte aus größerer Entfernung ein Foto von der Stelle unter den Akazien.
    In der Ferne hörte er Dr. Guyots schwaches Pfeifen. Er machte sich mit dem gelben Tatortabsperrungsband an die Arbeit. Er wickelte ein kurzes Stück davon um den Stamm einer Akazie und spannte dann eine Absperrung um die Bäume. Während er überlegte, wie er am nächsten Morgen weiter verfahren sollte, trat er unter den Akazien hervor und blickte sich nach etwas um, das er als Luftmarkierung verwenden könnte. Er entdeckte ganz in der Nähe einen Beifußstrauch, den er mehrere Male mit dem gelben Klebeband umwickelte.
    Als er damit fertig war, war es fast dunkel. Er sah sich noch einmal flüchtig um, obwohl ihm klar war, dass eine Durchsuchung mit der Taschenlampe sinnlos wäre und das Gelände am nächsten Morgen gründlich durchkämmt werden müsste. Schließlich begann er, mit dem kleinen Taschenmesser an seinem Schlüsselbund einen Meter lange Stücke von dem gelben Klebeband abzuschneiden.
    Diese Streifen befestigte er beim Abstieg in regelmäßigen Abständen an Ästen und Büschen. Als er weiter nach unten kam, hörte er von der Straße Stimmen, die er zur Orientierung benutzte. An einer Stelle des Abhangs gab der weiche Untergrund plötzlich nach. Er stürzte und prallte mit dem Oberkörper gegen den Stamm einer Kiefer. Die raue Rinde zerriss sein Hemd und schürfte seine Rippenpartie übel auf.
    Bosch blieb mehrere Sekunden reglos liegen. Er fürchtete, sich auf der rechten Seite ein paar Rippen gebrochen zu haben. Jeder Atemzug bereitete ihm Mühe und schmerzte. Laut stöhnend zog er sich langsam an dem Baumstamm hoch, um weiter den Stimmen zu folgen.
    Wenig später hatte er die Straße erreicht, wo Dr. Guyot mit seinem Hund und einem anderen Mann wartete. Die zwei Männer machten bestürzte Gesichter, als sie das Blut auf Boschs Hemd sahen.
    »Was haben
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher