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Kay Susan

Titel: Kay Susan
Autoren: Das Phantom
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hinabzuschauen.
    Charles beugt sich herüber und legt seine Hand auf meine. Er sagt nichts, denn er weiß instinktiv, daß es Anlässe gibt, bei denen man besser schweigt, daß Mitgefühl sich leichter durch eine Berührung ausdrücken läßt als durch sinnlose Worte. Er wartet mit einer ruhigen Geduld, die gar nicht seinem Alter entspricht, während ich mich allmählich sammle und darauf vorbereite, Loge Fünf zum letzten Mal zu verlassen. Ich werde nicht wieder herkommen. Die Erinnerungen sind zu schmerzlich, und doch bereue ich diese Zeit des Nachdenkens nicht, dieses Ausbrennen einer alten, unverheilten Wunde.
    Die Menge auf der großen Treppe zerstreut sich allmählich, und ich sehe, daß Charles sich mit unverhohlener Bewunderung umschaut.
    »Was für ein prachtvoller Bau!« sagt er ehrfürchtig, als wir in die kühle Abendluft hinausgehen. »Ich frage mich, ob die Männer, die ihn gebaut haben, noch leben und über ihre große Leistung staunen.«
    »Erik ist seit siebzehn Jahren tot«, höre ich mich leise murmeln. »Erik? War er ein Freund von dir, Papa?«
Das eifrige Interesse in seiner Stimme läßt mich die Mundwinkel
    zu einem traurigen, ironischen Lächeln verziehen.
»Deine Mutter kannte ihn besser als ich.«
»War er Architekt?«
»Architekt, Musiker, Magier, Komponist . . . ein Genie auf vielen
    Gebieten, hat man mir einst gesagt.«
Das Interesse wird zu einem leicht verwirrten Stirnrunzeln. »Ich frage mich, warum Mama nie von ihm sprach. Es ist schade,
    daß er gestorben ist. Ich hätte ihn gern gekannt.«
»Ja . . . « Unsere Kutsche reiht sich langsam in die überfüllte Stra
ße ein, und als ich hinausschaue, werfe ich einen Blick zurück auf
die imponierende Barockfassade der Oper. »Ja, mein lieber Junge,
das hättest du sicher.«
Wir schweigen eine Weile, und nach einer von ihm als angemessen erachteten Pause schneidet Charles das Thema an, mit dem ich
fast gerechnet hatte. »Dieser Hund, den wir vorhin überfahren haben, ist ein herrenloser Streuner. Können wir ihn mit nach England
nehmen und ihm ein Zuhause geben?«
Ich protestiere schwach und erwähne die neuen Einfuhrvorschriften – sechs Monate Quarantäne in einer vom Besitzer zu bezahlenden Unterkunft –, aber Charles hat seinen störrischen Blick, und ich
weiß, daß Streiten keinen Sinn hat. In seinen Augen bin ich jetzt
auch so etwas wie ein verlorener Hund, etwas, um das man sich kümmern und das man wieder glücklich machen muß. Wie kann
ich einem so großmütigen Herzen etwas verweigern?
Die Oper verschwimmt in der Ferne, bis sie im Schatten nicht
größer wirkt als ein Puppenhaus, ein verkleinertes verlorenes Königreich, eingehüllt in den dichten Pariser Nebel.
Siebzehn Jahre, Erik – zu lange für Bitterkeit, zu lang für Haß.
Dein Genie ist nicht spurlos von dieser Erde verschwunden, und ich
habe den Jungen heute nacht hergebracht wie einen jungen Pilger
zu einem Schrein, zur endgültigen Begleichung einer lange ausstehenden Schuld.
Ich, der ich so unfreiwillig an deiner Tragödie teilhatte, bin
jetzt aufgrund einer ironischen Schicksalswendung allein übrig, um
mich in deinem Triumph zu sonnen. Dieser brillante, liebevolle Junge, der mich in seiner Unschuld Vater nennt, hat mich so viele Dinge über die Liebe gelehrt, die ich sonst wohl nie begriffen hätte. Ich
sehe die Welt jetzt durch seine Augen, und ich erblicke den mir zugewiesenen Platz in der großen Ordnung der Dinge. Wie ein müder
Sperling betrachte ich mit freudigem Stolz den Riesen, den ich als
meinen Sohn aufgezogen habe. Meine Federn sind dünn und schäbig geworden bei der schwierigen Aufgabe, doch jetzt wärmt und
tröstet mich seine Gegenwart, und ich fürchte den Tag, an dem ich
ihn an den Ruhm und Glanz verlieren muß, die zweifellos seiner
harren.
Seine Söhne werden die stolze Linie der Chagny fortsetzen, und
ich werde mein Geheimnis ohne Groll mit ins Grab nehmen – und
nahezu ohne Bedauern.
Der Kuckuck, weißt du . . .
Der Kuckuck ist ein schöner Vogel.
ANMERKUNGEN DER AUTORIN
    Ich kann dieses Buch nicht beenden ohne dankbare Anerkennung der verschiedenen Quellen, die mich bei der Niederschrift inspiriert haben, von dem wundervollen Musical Andrew Lloyd Webbers bis zum Originalstummfilm. Im Laufe meiner Recherchen habe ich viele verschiedene Phantome entdeckt – Lon Chaney, Claude Rains und Michael Crawford; alle haben einer Figur, die das Publikum schon seit Jahrzehnten fasziniert, ihre eigenen Interpretationen gegeben. Die vielleicht
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