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Karwoche

Karwoche

Titel: Karwoche
Autoren: Andreas Föhr
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Die Oberarme lagen am Körper an, die Rückenlinie wies zum Kopf hin nach unten. Der Kopf im Nacken, die grünen Augen weit aufgerissen. Bis auf das Gesicht war die Frau schwarz. Schwarzes Leder, schwarze Stiefel, schwarze Haare. Die linke Hälfte des Gesichts war geschminkt, dezent, denn es war von Natur aus schön und hatte nicht viel Aufwand nötig. Die rechte Gesichtshälfte hingegen war von Brandnarben entstellt, und es fehlte ein Teil des Haupthaares. Das rechte Ohr war zweifellos von Menschenhand geformt, aus der Haut von anderen Körperstellen, nicht ohne Kunstfertigkeit, aber eben doch künstlich.
    Wallner sprach die Frau leise an. Als könnte sie zu Staub zerfallen, wenn er ein lautes Wort an sie richtete. Warum er sie überhaupt ansprach, wusste er später nicht zu sagen. Es war offensichtlich, dass die Frau nicht mehr lebte. Dennoch mochte man es nicht recht glauben. Tote liegen, hängen, sitzen. Aber sie knien nicht wie beim Kotau auf der Ladefläche eines Lieferwagens. Kilian Raubert schrie wie ein kleines Mädchen, als er die Leiche sah, spitz und erstickt. Er presste beide Hände auf den Mund und sagte nichts mehr, bis der Notarzt ihn wegbrachte.
     
    Fünfundzwanzig Minuten später kniete Oliver Kaschmann vor der Leiche und stellte Würgemale am Hals fest. Die Leiche lag auf der Seite, immer noch in der Haltung, in der man sie im Laderaum gefunden hatte. Auf dem Rücken war sie nicht stabil gewesen. Es hatte sich herausgestellt, dass es nur zwei Auflagepunkte gab, Gesäß und Hinterkopf, denn die Frau war dünn. Und so kippte sie entweder nach links oder nach rechts weg, sobald man versuchte, sie auf den Rücken zu legen.
    Oliver Kaschmann war der neue Kollege im K 3, der Abteilung für Spurensicherung. Er stammte aus Berlin und hatte lange auf eine Stelle im bayerischen Voralpenland gewartet. Er kletterte mit Leidenschaft und hatte ein Auge für Details und Strukturen. Das war eine Eigenschaft, die ihm beim Klettern wie als Spurensicherer von Nutzen war.
    Der Gerichtsmediziner aus München würde noch eine Weile auf sich warten lassen. Oliver nutzte die Zeit, um erste Spuren an der Leiche zu sichern. Neben ihm kniete Janette, eine junge Kripokollegin. Soweit Oliver das zu diesem Zeitpunkt beurteilen konnte, war Folgendes passiert: Jemand hatte die Frau, die Hanna Lohwerk hieß, wie aus dem Ausweis in ihrer Handtasche hervorging, erwürgt und sie in den Sessel einer Couchgarnitur gesetzt, die im Laderaum darauf wartete, ausgeliefert zu werden. In dieser Haltung trat die Totenstarre ein, und in dieser Haltung war der steife Körper der Frau während der Fahrt aus dem Sessel gekippt.
    »Wieso ist denn die Frau rechts so verbrannt? Weiß das jemand?«, fragte Oliver, während er das Gesicht der toten Frau inspizierte.
    »Autounfall. Sie war auf der Fahrerseite eingeklemmt, und der Wagen hat Feuer gefangen. Bis es gelöscht war, war sie auf der rechten Seite völlig verbrannt. Kannst dir vorstellen, wie die damals ausgeschaut hat. Das geht mir heut noch nach«, sagte Kreuthner.
    »Wie lang ist das her?«
    »Ich war damals Anfang zwanzig. Gut fünfzehn Jahre.«
    Oliver drehte die Leiche auf die rechte Seite. Das verbrannte Gesicht verschwand, die unversehrte Hälfte bot sich den Umstehenden dar. Das Monster hatte sich mit einem Mal in eine makellose Schönheit verwandelt. Dieser gespenstische Maskentausch wirkte auf alle Anwesenden beunruhigend.
    »Muss brutal sein, wenn du so aussiehst und dann … so.« Janette wies auf die andere Gesichtsseite.
    »Klar«, sagte Oliver. »Ick mein, dit is immer Scheiße. Aber et jibt ja ooch Abstufungen, will ick ma sagen.« Wenn Oliver nicht dienstlich sprach, verfiel er ins Berlinerische.
    »Es war sogar noch schlimmer«, schaltete sich Kreuthner wieder ein.
    »Wie das?«
    »Die war Schauspielerin. Tja – mit dem Gesicht war natürlich Schluss damit. Da kannst ja nur noch im Horrorfilm mitspielen.« Kreuthner betrachtete die schöne Seite der Leiche und wurde nachdenklich. »Wie jemand so die Arschkarte ziehen kann. Is schon der Wahnsinn. Gut, andere schauen ihr ganzes Leben lang scheiße aus. Aber wennst mal super ausgeschaut hast …«
    »Absolut«, pflichtete Oliver bei. »Dit is ja letztlich ne Frage der Fallhöhe, wa? Wenn de aussiehst wie Arsch und Friedrich und kennst nüscht anderes – dit stumpft ab, wa? Kommt denn uff ’n paar Narben mehr oder weniger ooch nich an. Aber wenn se dir uff der Wie-seh-ick-aus-Skala von zehn uff eins minus
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