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Karwoche

Karwoche

Titel: Karwoche
Autoren: Andreas Föhr
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verstummte, sah für einen Sekundenbruchteil zu Katharinas Mann Dieter, dann auf ihre Fingernägel mit den weiß manikürten Spitzen. Henry, Katharinas jüngerer Sohn, schluckte und vermied es, den anderen in die Augen zu sehen. Seine Freundin wusste nicht, wann sie zu schweigen hatte.
    Es wurde wieder still. Katharina sah zu ihrem Mann. Dieter nickte. »Wir sollten wohl die Polizei rufen.«
    »Natürlich«, sagte Katharina. »Wir rufen die Polizei. Henry, machst du bitte den Christbaum aus?«
    Henry trat auf den Schalter, brauchte aber drei Mal, bis die Kerzen erloschen. Alle anderen warteten, was Katharina noch zu sagen hatte. Sie hatte noch nicht angesprochen, was allen durch den Kopf ging. Wer auch immer Leni mit einer Schrotflinte erschossen hatte – er befand sich vermutlich hier im Zimmer.
    »Gestern Abend ist viel gesagt worden. Dinge, die jetzt im Raum stehen und sich nicht mehr ändern lassen. Leni ist tot. Sie kann nichts mehr zurücknehmen. Nicht mehr sagen, ich hatte zu viel getrunken, ich habe das alles nicht so gemeint. Vielleicht hat sie es gemeint. Vielleicht auch nicht. Vielleicht hat sie sich auch einfach nur geirrt. Wir wissen, dass Leni … Probleme hatte. Den einen Tag war sie euphorisch und wollte die Welt umarmen. Am andern war sie verzweifelt und wollte nicht mehr leben. Oder sie sagte den Menschen, die sie liebte, Dinge ins Gesicht, die sie kurz darauf bereute. So war sie, und dafür haben wir sie geliebt – und manchmal gehasst.« Katharinas Kinn zuckte, Tränen liefen über ihre Wangen, sie wischte sie mit zwei Fingern weg. Wolfgang reichte ihr ein Papiertaschentuch.
    »Was willst du uns sagen?«, fragte Henry. »Natürlich hat es nichts zu bedeuten, was Leni gestern Abend … ich meine, sie war sehr aufgeregt und hatte viel getrunken. Aber verdammt – jemand hat sie erschossen. Irgendjemand hat meine Schwester mit einer Schrotflinte erschossen!«
    »Lass Mama doch einfach mal ausreden«, sagte Adrian. Er war Henrys älterer Bruder.
    »Ja, das ist grauenhaft.« Katharina schneuzte in das Papiertaschentuch und wischte mit einer trocken gebliebenen Ecke weitere Tränen fort. »Wir waren bis heute Morgen eine glückliche Familie. Jetzt liegen schwere Zeiten vor uns. Aber dafür ist eine Familie da. Um schwere Zeiten gemeinsam zu bestehen. Ihr versteht, was ich meine.«
    »Ich verstehe es, ehrlich gesagt, nicht ganz. Du willst irgendetwas sagen, aber sprichst es nicht aus.«
    »Henry – du bist sehr ungeduldig. Jetzt gilt es, in aller Ruhe nachzudenken.« Sie zog die Nase hoch und schluckte. Der Tränenfluss wollte nicht enden. »Was ich sagen will ist, dass wir nicht noch mehr Unglück über unsere Familie bringen dürfen. Was gestern Nacht in diesem Haus passiert ist, betrifft die Familie. Und nur die Familie. Es geht niemanden sonst etwas an.«
    »Aber die Polizei wird Fragen stellen. Die wollen Erklärungen. Und sie werden keine Ruhe geben, bis sie den Täter haben.«
    »Ja, die Polizei wird Fragen stellen. Deswegen sollten wir uns gut überlegen, was wir darauf antworten. Es ist die Aufgabe der Polizei, den Täter zu finden. Wir sollten ihr dabei helfen.«
    Katharina sah in die Runde. Jennifer gehörte nicht zur Familie. Sie popelte an ihren manikürten Fingernägeln. Würde sie Schwierigkeiten machen? Oder Henry? Oder Dieter? Auf Adrian war Verlass. Zumindest in diesen Dingen. Andererseits – man wusste nie …

[home]
    Gründonnerstag
    Kapitel 1
    E s ging auf fünf zu an diesem Gründonnerstag im April. Die Sonne stand über den Bergen im Westen und warf ihr Licht auf die noch schneebedeckten Gipfel von Guffert und Halserspitze. An den Apfelbäumen trieben die ersten Knospen, und in den Fallrohren der Regenrinnen gluckste das Schmelzwasser, das jetzt reichlich von den Dächern floss. Nach einem langen Winter war der Frühling in die Berge gekommen.
    Der Transporter raste mit furchterregendem Tempo den Achenpass hinab Richtung Tegernsee. Polizeiobermeister Leonhardt Kreuthner würde eine Weile brauchen, um ihn zu überholen. Was bedeutete, dass während des Überholvorgangs längere Zeit niemand entgegenkommen durfte. Kreuthner wartete ab, bis nach einer Kurve eine lange, gut einsehbare Gerade vor ihnen lag. Er zog nach links und setzte sich neben den Laster. Quälend langsam und röhrend schob sich der alte Passat am Laderaum des Transporters vorbei. Kreuthner drückte das Gaspedal bis zum Boden, sein Oberkörper lehnte vor Anspannung fast auf dem Lenkrad. Schweiß trat ihm
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