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Karwoche

Karwoche

Titel: Karwoche
Autoren: Andreas Föhr
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beschuldigt hat und nicht den wahren Täter. So etwas kommt vor. Ich habe mich erkundigt. Es kann jedoch sein, dass im Lauf der Therapie das Gedächtnis sozusagen nachbessert und sich das Missbrauchsopfer an den tatsächlichen Täter erinnert. Leni wäre für den Täter also eine lebende Zeitbombe gewesen. Die Frage ist nur: Warum erinnerte sich Leni an ihren Vater, wenn er gar nicht der Täter war?«
    Wallner wandte sich unversehens an Adrian. »Wie war Ihr Verhältnis zu Ihrer Schwester?«
    Adrian überlegte, sah zu seiner Mutter, dann zu seinem Vater. Schließlich sagte er: »Offen gesagt: eher problematisch. Wir sind uns aus dem Weg gegangen, wir haben nie telefoniert. Und wenn wir uns begegnet sind, dann auf Familienfeiern.«
    »Ihr Verhältnis zu Leni war besser?« Wallner sah Henry an.
    »Ja. Wir haben gelegentlich telefoniert. Manchmal hat sie mir auch Persönliches erzählt. Aber nicht sehr oft. Ich würde sagen, wir mochten uns als Geschwister. Aber eine gewisse Distanz war immer da.«
    »Wie steht es mit Ihnen?«
    Wolfgang Millruth zuckte mit den Schultern. »Unser Verhältnis war eigentlich ganz gut. Hab ich mir jedenfalls immer eingebildet.«
    »Es
war
sehr gut. Du warst der Einzige, auf den sie gehört hat«, sagte Katharina Millruth. »Wenn sie Probleme hatte, ist sie zu dir gegangen. Nicht zu mir und nicht zu ihrem Vater. Zu dir.«
    »Sie waren für Leni immer da, nicht wahr? Auch wenn ihre Eltern fort waren, um Filme zu drehen.«
    »Nun ja, ich war sicher eine Konstante in ihrem Leben.«
    »Kann man sagen, dass Sie ihre eigentliche Vaterfigur waren?«
    Wolfgang Millruth sah seinen Bruder an. »Nein, so weit würde ich jetzt nicht gehen …«
    »Doch, es war schon so«, schnitt Dieter Millruth seinem Bruder das Wort ab. »Das war mir immer klar. Auf mich musst du keine Rücksicht nehmen.«
    »Das ist möglicherweise der Punkt. Es gibt Fälle, habe ich mir sagen lassen, da wird der missbrauchende Vater in der Erinnerung des Opfers durch, sagen wir, einen Freund der Familie ersetzt. Warum? Weil das Opfer, einem natürlichen Instinkt folgend, seine Eltern schützt. Weil es nicht wahrhaben will, dass der Mensch, den es am meisten liebt, ihm so etwas Schreckliches angetan hat. Deshalb muss es ein anderer gewesen sein. Es wird sozusagen ein plausibles Double in die Historie eingefügt. In unserem Beispiel der Freund des Vaters. Was aber, wenn der Mensch, den das Opfer am meisten liebt, gar nicht der Vater ist, sondern beispielsweise der Onkel? Wäre es nicht denkbar, dass in der Erinnerung der Vater herhalten muss für einen Missbrauch, den in Wirklichkeit der geliebte Onkel begangen hat?«
    Es war absolut still im Raum.
    »Das Polaroidfoto von Leni wurde vermutlich am neunzehnten Juni 1998 aufgenommen, der Tag, an dem Hanna Lohwerk verunglückte und ihr halbes Gesicht verbrannte. Der Tag ist verständlicherweise einigen Leuten im Gedächtnis geblieben. Unter anderem auch einem Mann namens Kilian Raubert. Wir haben auf dem Weg hierher mit ihm telefoniert. Er hatte damals eine Affäre mit Ihrem Au-pair-Mädchen Sofia Popescu. An dem Tag, als Leni Hanna Lohwerk vor den Wagen lief, war das Au-pair nicht bei Leni, wo sie eigentlich hätte sein sollen. Denn Sofia Popescu hatte ein Schäferstündchen mit Kilian Raubert. Allerdings kann man der jungen Frau keinen Vorwurf machen. Sie hatte Leni nämlich in bester Obhut zurückgelassen. Ihr Onkel Wolfgang hatte angeboten, auf Leni aufzupassen.«
    Katharina Millruth entgleisten die Gesichtszüge, als sie erst Wolfgang ansah, dann ihren Mann Dieter. »Das hast du nicht getan, Wolfgang. Sag, dass das nicht wahr ist.«
    »Nein«, sagte Wolfgang. »Das sind reine Spekulationen. Ich hätte Leni nie berührt.«
    Ein Zucken war in Dieter Millruths Gesicht gefahren, seine zynische Ruhe war dahin. Es kam für alle im Raum vollkommen unvorbereitet, als er mit einem Mal aufsprang und sich auf seinen Bruder stürzte. Er schlug wie besessen auf ihn ein, beschimpfte ihn unflätig und schrie dermaßen, dass seine Stimme schließlich versagte. Den vier anwesenden Männern war es fast nicht möglich, den Rasenden von seinem Bruder, der sich nicht wehrte, wegzuziehen.
    Nachdem man Dieter in ein anderes Zimmer gebracht hatte, saß Wolfgang immer noch versteinert in einer Zimmerecke auf dem Boden und starrte auf ein Tischbein. Katharina stand vor ihm und schüttelte stumm und unablässig den Kopf.
    »Er hat es nicht getan«, sagte sie den Kommissaren, als sie das Zimmer wieder
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