Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Karwoche

Karwoche

Titel: Karwoche
Autoren: Andreas Föhr
Vom Netzwerk:
betraten.
    Mike ignorierte die Frau und stellte sich vor Wolfgang Millruth. »Jennifer Loibl war in der Hütte. Wohin haben Sie sie gebracht? Wohin?«

Kapitel 65
    J ennifer Loibl war ohnmächtig, als die Polizei sie aus dem Keller der alten Remise befreite, aber sie lebte und trug außer Abschürfungen an den Handgelenken und einigen blauen Flecken keine körperlichen Schäden davon. Die seelische Verarbeitung ihrer Entführung würde voraussichtlich lange Zeit dauern und nicht ohne therapeutische Hilfe möglich sein. Wolfgang Millruth hatte Jennifer Loibl in der Jagdhütte seines Bruders betäubt, ihr Auto im Wald versteckt, Jennifer in seinem Wagen auf das Millruthsche Grundstück gebracht und in den Keller seines Hauses gesperrt. Er legte noch am gleichen Tag ein umfassendes Geständnis ab.
     
    Es war gegen halb vier in der Weihnachtsnacht. Schnee fiel in dichten Flocken auf das Anwesen der Familie Millruth. Alle Fenster waren dunkel. Einzig im alten Pferdestall brannte Licht. Eine Gestalt stapfte durch den Neuschnee auf das beleuchtete Gebäude zu. Es war Wolfgang Millruth. Er trug eine Schrotflinte in der Hand.
    Leni starrte ihren Onkel erschrocken an, als er mit dem Gewehr im Raum stand.
    »Du hast mich vielleicht erschreckt. Was machst du mit der Flinte?«
    »Ich dachte, es ist vielleicht ein Einbrecher. Was tust du hier?«
    Leni kam hinter einem Stapel Bauernstühle hervor. »Ich suche mein Lamm. Als Kind hatte ich dieses pinkfarbene Plüschlamm. Herr Lämmle. Kannst du dich erinnern?«
    »Ja. Wieso suchst du mitten in der Nacht danach?«
    »Ich habe etwas darin versteckt. Und ich glaube, es beweist, dass mein Vater mich missbraucht hat.«
    »Was sollte das sein?«
    »Ich weiß es nicht. Mein Gedächtnis weigert sich noch, es mir zu verraten. Um mich zu schützen, sagt meine Therapeutin. Ich weiß nur, dass es etwas sehr Schlimmes war. Es musste weg. Niemand durfte es sehen. Und so habe ich es in die Obhut von Herrn Lämmle gegeben.«
    Wolfgang Millruth wurde bleich. Es musste das Foto sein. Jahrelang hatte er wie besessen danach gesucht. »Wie hast du es in dem Lamm versteckt?«
    »Dort, wo der Kopf angesetzt war, gab es ein Loch. Die Naht war gerissen. Da habe ich es hineingesteckt, und hinterher habe ich Sofia gebeten, es zuzunähen.«
    »Komm, geh ins Bett. Du kannst morgen danach suchen. Ich helfe dir dabei.«
    »Nein, nein. Ich habe nur vorsichtshalber noch mal hier nachgesehen. Und weil ich nicht schlafen kann. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich Herrn Lämmle damals Sofia geschenkt habe, als sie nach Rumänien zurück ist. Ich schau morgen mal in Facebook, ob ich sie finde.«
    »Gute Idee.« Tausend beunruhigende Gedanken schossen Wolfgang durch den Kopf. »Und was, wenn nicht?«
    »Was meinst du?«
    »Wirst du dich jemals wieder daran erinnern, was du in diesem Plüschlamm versteckt hast?«
    »O ja! Das werde ich. Nur eine Frage der Zeit, sagt meine Therapeutin. Irgendwann wird alles, was mir mein Vater angetan hat, glasklar vor meinen Augen stehen. Irgendwann werde ich mich an alles erinnern. Und glaube mir: Ich werde es nicht runterschlucken. Er wird dafür büßen.« In diesem Augenblick fiel ihr auf, wie bleich ihr Onkel war und dass sein Gesicht vor Schweiß glänzte. »Was hast du?«, fragte sie.
    »Nichts. Es ist wohl der viele Alkohol.«
    Er hob den Lauf der Flinte, bis er auf der Höhe von Lenis Bauch war. Es waren keine zwei Meter zwischen der Mündung und Leni.
    »Pass bitte auf. Du zielst genau auf mich.« Lenis Stimme klang ein bisschen verwundert, aber auch nicht mehr, bevor der Schuss ihr die Eingeweide zerfetzte.

Kapitel 66
    V era saß auf einer Besucherbank. Sie hatte einen Plastikbecher mit Kaffee in der Hand und die Brille abgesetzt, so dass man die Ringe um ihre Augen sah. Ansonsten machte sie einen ruhigen Eindruck und lächelte Wallner erschöpft an.
    »Wie geht’s dir?« Er setzte sich neben sie.
    »Christian ist vor einer Stunde gestorben.«
    Wallner nickte und wusste nicht, was er sagen sollte.
    »Es ist in Ordnung«, sagte Vera. »Ich bin hauptsächlich müde.«
    »Und traurig?«
    »Auch. Natürlich. Aber ich war jetzt vier Tage so traurig wie noch nie in meinem Leben. Es war ein langer Abschied von Christian. Ich hab’s hinter mir.«
    Sie lehnte sich an Wallners Schulter. Die beiden blieben so, bis Vera eingeschlafen war. Wallner ließ sie sanft nach unten gleiten, bis ihr Kopf mit den kastanienbraunen Locken auf seinem Schoß ruhte. Er angelte nach dem Kaffeebecher,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher