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Kartiks Schicksal

Kartiks Schicksal

Titel: Kartiks Schicksal
Autoren: Libba Bray
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verabschieden uns.
    »Gute Reise, Vater«, sagt Thomas. Er und Vater schütteln einander verlegen die Hände.
    »Danke, Thomas«, sagt Vater und hustet. Er muss warten, bis sich der Krampf gelöst hat, bevor er weitersprechen kann. »Wir sehen uns zu Weihnachten.«
    Tom schaut auf seine Füße hinunter. »Ja. Natürlich. Bis Weihnachten.«
    Ich umarme Vater. Er hält mich einen Augenblick länger als gewöhnlich und ich kann seine Rippen fühlen. »Danke, dass du mich zum Schiff begleitet hast, Kleines.«
    »Ich werde dir schreiben«, sage ich und bemühe mich, nicht zu weinen.
    Er lässt mich lächelnd los. »Dann werde ich voller Ungeduld auf deine Briefe warten.«
    Die Schiffssirene ertönt. Stewards erheben ihre Stimmen zum letzten Aufruf an die Passagiere, an Bord zu gehen. Vater betritt den Laufgang und schreitet inmitten einer Menge winkender Reisender langsam zum Deck des Schiffes hinauf. Die Sonne wirft ihr trügerisches Licht auf das Gesicht meines Vaters, sodass ich keine Falten, keine Blässe, keine Traurigkeit sehe. Es gibt Illusionen, die ich noch nicht bereit bin aufzugeben.
    Als das Schiff ablegt und langsam aufs gleißende Meer hinausfährt, sehe ich ihn so, wie ich ihn sehen möchte: gesund und kräftig und glücklich, mit einem Lächeln voll strahlender Zuversicht, was immer vor ihm liegen mag.
    *
    Die Hochzeit von Mademoiselle LeFarge findet am letzten Freitag im Mai statt. Ich komme am Tag davor, also Donnerstag, zurück und trage meinen Koffer auf mein altes Zimmer. Die Bäume sind so dicht belaubt, dass ich den Weiher und das Bootshaus von hier nicht mehr sehen kann. Eine Spur von Farbe flimmert im Efeu unter meinem Fenster. Ich öffne es und fasse nach unten. Es ist ein Fetzchen von dem roten Tuch. Kartiks Signal an mich. Ich nestle es los und stecke es in meinen Rockbund.
    Ein neuer Bautrupp arbeitet eifrig am Ostflügel. Der Turm nimmt zusehends Gestalt an. Keine Wunde mehr, aber auch noch nicht ganz. Etwas dazwischen und ich beginne eine Art Verwandtschaft mit ihm zu empfinden. Das Tor ins Magische Reich ist derzeit verschlossen und gibt uns Zeit nachzudenken, uns Rechenschaft abzulegen. Wenn ich von der Universität zurückkomme, werden wir – die Völker des Magischen Reichs, meine Freundinnen, Fowlson, Mrs Nightwing und ich und alle, die mitreden wollen – zusammenarbeiten, um eine Art Verfassung für das Magische Reich auszuarbeiten.
    Obwohl es keine große Rolle spielt, ob ich dabei bin oder nicht. Aber die Fähigkeit, das Magische Reich zu betreten, scheint mir genauso in die Wiege gelegt worden zu sein wie mein widerspenstiges rotes Haar und meine sommersprossige Haut. Und so sitze ich eines schönen letzten Donnerstags im Mai auf meinem alten Bett in meinem Zimmer in Spence und lasse das Tor aus Licht erscheinen.
    *
    Das Magische Reich ist nicht der Ehrfurcht gebietende Ort, den ich von meinem ersten Tag hier in Erinnerung habe. Es ist ein Ort, den ich inzwischen gut kenne und den ich noch besser kennenlernen möchte.
    Die Medusa ist im Garten. Sie richtet den silbernen Bogen wieder auf.
    »Gebieterin«, ruft sie. »Eine hilfreiche Hand könnte ich gut gebrauchen.«
    »Gerne«, sage ich und packe auf der anderen Seite an. Wir stoßen und schieben, bis der Bogen fest in der Erde verankert ist. Er schwankt einen Moment, dann steht er.
    »Ich möchte Philon sehen«, sage ich.
    »Meine Beine sind schwach von der jahrelangen Gefangenschaft«, sagt sie und stützt sich gegen einen Baum. »Aber meine Tatkraft ist ungebrochen. Komm, ich bringe dich hin.«
    Sie führt mich an den Fluss und zum Boot, das über Jahrhunderte ihr Gefängnis war.
    Ich zucke zurück. »Nein, ich kann nicht von dir verlangen, dass du dich wieder an dieses grausige Schiff kettest.«
    Sie zieht eine Augenbraue hoch. »Ich hatte nur vor zu steuern.«
    »Ach so«, sage ich beschämt. »Dann soll es mir recht sein.«
    Die Medusa bedient das Steuerrad wie ein richtiger Kapitän und nimmt Kurs auf die Heimat des Waldvolks. Wir fahren durch den goldenen Nebel. Einige Goldflitter landen auch auf der Medusa. Sie schüttelt sie ab. Das Ufer kommt in Sicht. Es ist nicht mehr so grün, wie es einmal war. Die Verwüstung, die die dunklen Geister der Winterwelt angerichtet haben, ist gewaltig. Verbrannte Bäume ragen wie dünne Streichhölzer auf und die Erde ist fest wie Leder. Viele der Waldbewohner sind fort. Aber Kinder lachen und spielen noch immer entlang dem Ufer. Ihre Lebensgeister sind nicht so leicht
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