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Karneval der Toten

Titel: Karneval der Toten
Autoren: M Grimes
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mitgenommen.
    Er war inzwischen weitergelaufen und bis Green Park gelangt, wo er sich wieder auf eine Bank setzte. Drüben am anderen Ende lag ein Teil des Daily Express . Er zog ihn herüber und warf einen Blick auf das Datum. Zweiter März. Er schob die Zeitung beiseite, die heimischen Tagesnachrichten interessierten ihn nicht, auch nicht die königliche Familie oder David Beckham und auch nicht die Jahrhundertwende.
    Er sollte zurück ins Büro gehen und Brendan anrufen. Der Arme wusste bestimmt gar nicht, wo ihm der Kopf stand. Was sollte er bloß mit dem Baby machen? Urgroßeltern gab es nicht in der Familie, jedenfalls nicht auf ihrer Seite. Vielleicht auf Brendans, vielleicht droben in County Cork.
    Jury war klar, dass er ihn anrufen musste. Doch er blieb sitzen, vornüber gebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und brütete vor sich hin: Er dachte an seinen letzten Besuch vor drei Monaten, seinen Ärger über ihre Sticheleien und Widersprüche und ihre Schadenfreude, weil sie mehr in Erinnerung behalten hatte. Schließlich war Jury damals noch so klein gewesen (hatte sie behauptet), bestimmt könne er sich an überhaupt nichts erinnern. Im Gegensatz zu ihr.
    Als er auf den Park hinausblickte, kam ihm eine Gedichtzeile in den Sinn: Ihr Grün ist eine Art von Traurigkeit. Er sah hinaus in den trüben Märztag. Plötzlich kam ihm die Idee, einen Blumenladen zu suchen und der Familie Blumen zu schicken, doch er wusste nicht, wohin er sie schicken sollte, zu welchem Bestattungsinstitut. In die Wohnung lieber nicht, Brendan war kein besonders guter Hausmann, abgesehen davon, dass er jetzt ganz andere Sorgen hatte. Die Blumen würden wohl ohne Wasser vor sich hinwelken, bis er sie wegwarf. Vielleicht würden sie ihn sogar nerven.
    Trotzdem verspürte Jury das Bedürfnis, etwas zu tun. Er wollte etwas wieder gutmachen, wusste aber nicht, was. Vielleicht, dass er das Kind gewesen war, das sein Onkel hätte haben wollen, oder vielleicht, dass er Sarah in Bedrängnis gebracht hatte, als er das letzte Mal dort gewesen war, vor Weihnachten, oder vielleicht, weil er derjenige war, der noch atmete und sie nicht.
    Bald wäre Frühling, obwohl der Tag noch düster und verhangen aussah. Wieder musste er an Larkins Gedicht denken : Die Bäume setzen wieder Knospen an/Wie etwas fast Gesagtes. Er mochte Gedichte, bevorzugte aber die Offenheit und Direktheit eines Larkin oder Robert Frost. Im Grunde genommen waren Gedichte jedoch nie direkt, sie kamen einem nur so vor. Wie etwas fast Gesagtes. Das hätte er nie in andere Worte kleiden können, und doch war ihm klar, dass er damit der Wahrheit so nahe kam, wie er nur irgend konnte.
    Er hatte sie ja nicht einmal gemocht, sagte er sich immer wieder. Woher kam aber dann diese Enge in der Brust, dieses erstickende Gefühl (er war übrigens froh, dass Wiggins nicht da war und ihn beobachtete)?
    Urplötzlich überkam ihn die Erinnerung an Jenny Kennington, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, wie sie die Treppe ihres Hauses in Littlebourne heruntergelaufen kam, eine schwerverletzte Katze auf dem Arm. Obwohl sie Jury überhaupt nicht kannte, ließ sie sich von ihm zum Tierarzt fahren. Sie redete über den Kater, der ihr gar nicht gehörte, sondern herrenlos und wahrscheinlich von einem Auto angefahren worden war. Ich kann das Vieh nicht mal leiden, hatte sie gesagt, als es schließlich sicher in den Händen des Tierarztes war. Gleich mehrmals hatte sie Jury versichert, ich kann das Vieh nicht mal leiden.
    Ja, ja, dachte er. Sagst du so.
    Er ging die Piccadilly hinunter und betrat Fortnum & Mason, wo immer eine anheimelnd chaotische Stimmung herrschte. Jeder (denn schließlich ging jeder zu Fortnum’s!) war geradezu überwältigt von den Auslagen mit Gänseleber, Käse und Prosciutto, der so hauchdünn geschnitten war, dass man hindurchsehen konnte. Das wunderbare, schwarzbekittelte Personal, die glänzenden Früchte, die ineinander verschwimmenden Düfte von Tee und Zitrusfrüchten und Geld.
    Danach zu Hatchards, in eine Buchhandlung, die nach Büchern roch – nach Leder, Wachs, dunklen Holzmöbeln und -paneelen. Eine Atmosphäre, ein sinnliches Erlebnis, an die der gigantische Waterstones ein Stück weiter nicht einmal entfernt heranreichte.
    Er ging weiter, blieb bisweilen stehen, an einem Kiosk erstand er einen Telegraph , den er später ungelesen in einen Mülleimer warf. Wie war er eigentlich bis zur Oxford Street gelangt? Bei Selfridges warf er einen Blick ins Fenster.
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