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Karneval der Alligatoren

Karneval der Alligatoren

Titel: Karneval der Alligatoren
Autoren: James G. Ballard
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Luft
besänftigte Nerven und Körper. Beatrice streckte sich auf einem mit blaßblauen
Elefantenleder bezogenen Sofa, sie spielte mit einer Hand im weichen Flies des
Teppichs. Das Apartment war eines der pieds à terre ihres Großvaters
gewesen, Beatrice bewohnte es, seit ihre Eltern gestorben waren. Ihr Großvater
hatte sie aufgezogen, ein exzentrischer, einsamer Geschäftemacher (woher sein
Reichtum stammte, hatte Kerans nie herausfinden können. Als er Beatrice fragte,
nachdem er und Riggs sie aufgestöbert hatten, sagte sie unbestimmt: »Er hatte
eben Geld.«) In seiner Jugend hatte er viel für die Kunst getan. Vor allem das
Experimentelle und Bizarre lag ihm, und Kerans überlegte oft, inwieweit seine
Persönlichkeit und deren eigenartige innere Perspektiven sich auf die Enkelin
übertragen hatten. Über dem Kamin hing ein riesiges Bild, das der Surrealist
Delvaux Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gemalt hatte; aschfarbene Frauen –
nackt bis zum Nabel – tanzten in einer geisterhaft-knöchernen Landschaft mit
dandyartigen Skeletten im Smoking. An einer anderen Wand hing eine der sich
selbst verschlingenden fantastischen Dschungellandschaften Max Ernsts, ein
Bild, das wie ein erstickter Schrei wirkte, wie der Sumpf eines irren
Unterbewußtseins.
    Kerans starrte kurze Zeit schweigend
die blasse, gelbe Sonnenscheibe Ernsts an, die durch die exotische Vegetation
schien, und ein merkwürdiges Gefühl von Erinnerung und Erkenntnis durchzuckte
sein Gehirn. Das Bild dieser archaischen Sonne brannte sich in sein Denken ein,
sie erhellte die fliehenden Schatten, die durch die tiefsten Gründe seiner
Gedanken irrten.
    »Beatrice.«
    Er ging auf sie zu; sie sah leicht
irritiert zu ihm auf. »Was ist, Robert?«
    Kerans zögerte; ihm wurde plötzlich
klar, daß ein winziger, kaum erkennbarer Zeitraum unwiederbringlich
verlorengegangen war, eine Spanne, die ihn einem Zwang näher brachte, dem er
sich nicht entziehen konnte.
    »Ist dir klar, daß wir nicht einfach
später abreisen, wenn wir Riggs jetzt nicht folgen? Wir bleiben.«

3
     
     
    Kerans verankerte den Katamaran,
versorgte den Außenbordmotor und machte sich dann auf den Weg ins
Hauptquartier. Beim Gittertor blickte er über die Schulter zurück und sah durch
die Hitzewellen Beatrice an ihrem Balkongitter stehen. Als er ihr winkte,
drehte sie sich wie stets um, ohne seinen Gruß zu erwidern.
    »Hat wohl wieder ihre Launen, was?«
Sergeant Macready trat aus seinem Wachhäuschen, ein kleines Lächeln entspannte
sein hageres Raubvogelgesicht. »Ist schon eine komische Nudel.«
    Kerans zuckte mit den Schultern.
»Diese Junggesellinnen, Sie wissen schon. Wenn man nicht aufpaßt, schrecken sie
einen zu Tode. Ich habe versucht, sie zum Aufbruch zu überreden. Vielleicht
gelingt's mir doch noch.«
    Macready sah sinnend zum Dach des
Apartment-Hauses hinüber. »Das freut mich aber sehr«, sagte er unbestimmt;
Kerans war nicht klar, ob seine Skepsis ihn selbst oder Beatrice betraf.
    Ob sie nun letzten Endes mitfuhren
oder nicht, Kerans beschloß, auf jeden Fall so zu tun, als wollten sie
ebenfalls mitkommen. Jede freie Minute der nächsten drei Tage mußte genützt
werden, um ihre Vorräte zu ergänzen und alle nur möglichen Geräte aus dem
Hauptlager zu stehlen. Kerans wußte immer noch nicht, was er tun sollte –
sobald er fern von Beatrice war, verstärkte sich seine Unentschiedenheit; ob
sie ihn absichtlich verwirrte – Pandora mit ihrer Zauberbüchse von Wünschen und
Hemmungen, deren Deckel sie unvorhersehbar öffnete und schloß? Aber ehe er in
gequälter Unsicherheit schwankte, die Riggs und Bodkin bald durchschauen
würden, wollte er lieber die endgültige Entscheidung bis zum letztmöglichen
Moment aufschieben. Sosehr er das Hauptquartier haßte, er wußte, daß der
Anblick der abziehenden Basis alle Angst- und Schreckgefühle wunderbar
katalysieren und bald alle abstrakteren Motive für sein Zurückbleiben
überdecken würde. Vor einem Jahr war er einmal aus Versehen auf einem kleinen
Landvorsprung hängengeblieben, als er eine unvorhergesehene geomagnetische
Ablesung vornahm; er hatte mit Kopfhörern über den Ohren in einem alten
Kellerbunker an seinen Instrumenten gehockt und dadurch wohl die Abfahrtssirene
überhört. Als er zehn Minuten später auftauchte, sah er das Basisschiff einen
halben Kilometer entfernt davonziehen und fühlte sich wie ein Kind, das für
immer von seiner Mutter getrennt wurde; er konnte kaum rechtzeitig seiner Panik
Herr werden
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