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Karneval der Alligatoren

Karneval der Alligatoren

Titel: Karneval der Alligatoren
Autoren: James G. Ballard
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war,
hatten sie jedoch nichts weiter gehört. Die Spezialisten in Camp Byrd waren vielleicht
sogar schon zu müde, um zu lachen.
     
    Ende des Monats wollten Colonel Riggs
und seine kleine Einheit ihre Untersuchungen über die Stadt beenden (war es
einmal Berlin gewesen, Paris oder London? – Kerans wußte es selbst nicht) und
sich nach Norden absetzen; die biologische Station sollte dann im Schlepptau
mitgenommen werden. Kerans konnte sich nicht vorstellen, je das Dachapartment
zu verlassen, das er seit einem halben Jahr bewohnte. Das Ritz verdiente seinen
Ruhm wahrhaftig, das gab er gern zu – das Badezimmer zum Beispiel, mit den
schwarzen Marmorbecken, den vergoldeten Wasserhähnen und Spiegelrahmen wirkte
wie die Seitenkapelle einer Kathedrale. Irgendwie befriedigte ihn der Gedanke,
der letzte Gast dieses Hotels zu sein; stellte dieser Aufenthalt doch auch in
seinem Leben eine letzte Phase dar auf der Odyssee durch versunkene Städte, die
ihn immer nach Norden führte und bald in Camp Byrd enden würde – in Camp Byrd
mit seiner harten Disziplin, seinen Regeln und Vorschriften.
    Schon am zweiten Tag nach ihrer
Ankunft hatte er seinen Platz im Ritz bezogen, selig, endlich die enge Kabine
neben den Labortischen auf der Teststation gegen die riesigen, hohen
Repräsentationsräume des verlassenen Hotels tauschen zu können. Jetzt
akzeptierte er die überladenen, brokatbezogenen Möbel und die bronzenen,
seinerzeit modernen Jugendstilstatuetten in den Korridornischen bereits als
natürliche Umgebung, genoß er die melancholische Ausstrahlung, die von diesen
letzten Wahrzeichen einer Kultur ausging, die nun praktisch für immer
verschwunden war. Viele Gebäude rund um die Lagune waren inzwischen abgerutscht
und unter die Schlammanschwemmungen geraten, zeigten ihre schäbige Bauweise,
nur das Ritz stand noch in großartiger Einsamkeit am Westufer, und selbst der
blaue Schimmelpilz, der auf den Teppichen in den Korridoren sproß, trug noch
zum würdigen Aussehen dieser Reliquie aus dem 19. Jahrhundert bei.
    Das Apartment war ursprünglich für
einen Mailänder Bankier entworfen worden; es war verschwenderisch möbliert und
mit allen technischen Errungenschaften ausgestattet. Obwohl der untere Teil des
Hotels unter Wasser stand und die Stützmauern bereits zu brechen begannen,
hatte die 250-Ampère-Klimaanlage stets tadellos gearbeitet. Das Apartment war
zehn Jahre lang unbewohnt gewesen, es hatte sich aber nur wenig Staub auf
Kaminsimsen und goldumrandeten Tischen gesammelt, das Triptychon von Fotos auf
dem mit Krododilleder bezogenen Schreibtisch – Bankier allein, Bankier und
piekfeine, wohlgenährte Familie, Bankier und noch piekfeinerer fünfzigstöckiger
Bürobau – wies kaum Flecken auf. Zu Kerans' Glück hatte der frühere Bewohner
die Räume in größter Eile verlassen, die Schränke und Schubfächer waren voller
Schätze, von Tennis-Rackets mit Elfenbeingriffen bis zu handbedruckten Schlafröcken,
und die Cocktailbar enthielt Unmengen von heute einmaligen Whisky- und
Brandysorten.
     
    Eine Anophelesmücke von der Größe
einer Libelle flog an seinem Gesicht vorbei und tauchte dann zu der
schwimmenden Mole hinunter, an der Kerans' Katamaran verankert lag. Die Sonne
wurde noch immer durch die Bäume auf der Ostseite verdeckt, aber die ständig
steigende Hitze lockte die großen, bösartigen Insekten bereits überall aus
ihren Verstecken. Kerans zögerte, den Balkon zu verlassen und sich hinter den
Fliegendraht zu begeben. Traurig-schön sah die Lagune zu dieser frühen Stunde
aus. Das düstere, schwarzgrüne Blattwerk der Farne, Eindringlinge aus dem Trias
der Erdgeschichte, und die halb überfluteten, weißgestrichenen Gebäude des 20.
Jahrhunderts spiegelten sich Seite an Seite im dunklen Wasser, zwei ineinander
verschlungene, an einem Kreuzpunkt der Zeit steckengebliebene Welten; eine
riesige Wasserspinne spaltete hundert Meter vom Ufer entfernt die ölige
Wasserfläche, die Illusion zerbrach.
    In einiger Entfernung, irgendwo
hinter dem überschwemmten gotischen Gebäude im Süden, hustete und spuckte ein
Dieselmotor. Kerans verließ den Balkon und ging sich rasieren. Aus den Hähnen
floß schon längst kein Wasser mehr, Kerans besaß jedoch ein Reservoir im
Badebecken; das sorgsam in einer selbstgebauten Destillieranlage auf dem Dach
gereinigte Wasser kam durch eine Leitung beim Fenster herein.
    Kerans war knapp vierzig, vom
Radium-Fluor des Wassers war jedoch sein Bart weiß geworden;
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