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Karma Girl

Titel: Karma Girl
Autoren: Tanuja Desai Hidier
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bedrohlich fand. Doch heute hatte ich eher das Gefühl, als würde er mir beim Hinaufklettern helfen wollen, und so kletterte ich die glitschigen Sprossen, deren Rundungen sich schmerzhaft in die Fußsohlen bohrten, empor. Karsh stieg direkt hinter mir hoch, sodass sich der Ponton sogar noch stärker neigte. Doch das glich ich durch meinen mittlerweile geschärften Gleichgewichtssinn wieder aus.
    Wir hockten uns eine Weile auf den Ponton, bis das Schaukeln aufhörte. Dann zog er mich zu sich auf seinen Schoß, ich rollte mich wie eine Katze zusammen und kuschelte mich an ihn. Bevor wir uns zum ersten Mal berührt hatten, hatte ich geglaubt, dass die elektrische Spannung, die zwischen uns knisterte, ihren Ursprung in dem hauchdünnen Zwischenraum hatte. Aber wenn wir uns nun berührten, war es noch intensiver. Wie rich tiger Starkstrom.
    »Also, du hast gesagt, dass du mal wusstest, wie's geht«, sagte er.
    »Ja, aber dann habe ich zu sehr darüber nachgedacht«, sagte ich. »Seitdem macht mir die Vorstellung, dass meine Füße da sind, wo sonst mein Kopf ist, total Angst.«
    »Denk einfach daran, dass du nicht allein bist«, flüsterte er mir ins Ohr. »Du bist nicht allein, hörst du? Und vertrau einfach auf deinen Körper – alles, was du brauchst, ist in dir, Rani. Es war schon immer in dir.«
    Ich kniete mich auf die Holzplanken. Dann nahm ich sein Gesicht in meine Hände und streichelte seine nassen Augenbrauen.
    »Bist du bereit?«, fragte er.
    »Ja, ich bin bereit.«
    Ich stand auf und ging langsam bis an die Kante des Pontons. Dort streckte ich meinen Fuß ein Stück über die Kante und schaute nach unten. Der Mond war mittlerweile ganz aufgegangen und spiegelte sich im Wasser.
    Das Wasser war gar nicht weit entfernt – eine ziemlich kurze Entfernung für einen ganzen Salto. Aber ein Sommer war auch keine besonders große Zeitspanne, und doch hatte dieser Sommer ausgereicht, um mein Leben völlig auf den Kopf zu stellen. Ich wusste jetzt aus eigener Erfahrung, dass es gar nicht so schlecht war, wenn das Leben mal auf den Kopf gestellt, wenn oben und unten vertauscht wurde. Karsh hatte es mir bewiesen, ja, ich selbst hatte es mir bewiesen.
    Ich drehte mich zur Seite, er saß neben mir, die Füße im Wasser, und nickte mir zu. Trau dich.
    Und ich sprang.
    Dha dhin Trika Dha dha dhin Trika … Ta tin Trika Dha dha dhin Dha dha dha Trika … Dha dhin Trika Dha Ti Dha ge Tin na gi na Dhage na dhin Dhage na dha …
    Wie eine Geburt, bloß umgekehrt. Meine Ohren füllten sich mit Wasser und pulsierten im Rhythmus meines Herzens. Tief nach unten sank ich, ganz tief nach unten, bis ich den Boden berührte und Algen an den Händen spürte, stieß mich ab und schwamm wieder nach oben, ganz mühelos, nach oben, nach oben, das Rauschen in meinen Ohren, und schließlich: an die Oberfläche.
    Ich schnappte nach Luft. Und Karsh war bereits neben mir im Wasser.
    ★ ★ ★
    Wir lagen nun rücklings auf dem Ponton und blickten in einen Himmel, an dem zu viele Sterne funkelten, um sie zu zählen. Kaum zu glauben, dass schon September war. Karshs Hand ruhte zärtlich auf meinem Bauch, und ich sah dabei zu, wie sie sich durch mein Atmen langsam hob und senkte.
    Morgen würde mein erster Tag in der Oberstufe sein. Merkwürdig, sich das vorzustellen: dasselbe Gebäude, in dem dieselben Lehrer und mehr oder weniger dieselben Schüler umherdüsten. Doch nach diesem Sommer hatte ich keinen Zweifel daran, dass es ein völlig neuer Ort sein würde. Ein Ort, an dem Jimmy (Trilok) Singh plötzlich Trilok (Jimmy) Singh war und wo ich gemeinsam mit ihm Mittag aß und vielleicht sogar (aufgetaute) Samosas mitbrachte. Wo ich vielleicht in den Fluren einen ganz anderen Weg zu einem neuen Klassenzimmer nahm und wohin ich entweder wie bisher mit dem Bus fuhr oder vielleicht zu Fuß ging. Und manchmal würde mich mein Freund – nein, vielleicht mein Jeevansaathi – anschließend mit seinem Golf abholen und wir würden nach New York fahren. Es würde ein Ort sein, an dem eine Postkarte an einer Spindtür eine Geschichte hätte und an dem ich meine beste Freundin noch mehr lieben würde, und zwar wegen all der Wunden, die wir uns zugefügt und wieder geheilt hatten.
    Und ich würde Chica Tikka immer bei mir tragen und würde jemanden haben, mit dem ich meine Fotos teilen könnte, all diese Eindrücke und Impressionen von so vielen verschiedenen Leben. Von meinem eigenen Leben. Ich war gespannt darauf, welche Geschichte meine Fotos diesmal
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