Karma-Attacke (German Edition)

den Dolch bis zum Schaft in die Brust. Sie stellte sich vor, wie sein Herz zerriss. Dann wurde es Nacht um sie her.

86
    Bereits am dritten Tag wurde Ackers von der Intensivstation in ein Pflegezimmer verlegt. Den Fuß hatte er verloren. Auch die Narben im Gesicht würden bleiben, aber das berührte ihn nicht. Schlimmer war, dass er sich kaum vorstellen konnte, sich jemals wieder über diese Welt zu bewegen wie andere Menschen. Er hätte seine Pensionierung beantragen können. Der Polizeipsychologe hätte dem sofort zugestimmt. Oder er hätte sich eine Auszeit von einem Jahr nehmen können. Doch das alles war nicht die Lösung.
    Nachdem er aus der Narkose erwacht war, hatte er als Erstes Frau Zablonski angerufen. Jetzt stand sie an seinem Bett. Sie war blass, was durch ihre tiefdunkelrot geschminkten Lippen noch unterstrichen wurde.
    Ackers’ Kehle war trocken. Er musste es ihr nicht sagen, sie spürte es. Sie reichte ihm ein Glas Wasser und er führte es dankbar an die Lippen. Er trank nur einen winzigen Schluck.
    Dann fragte er: «Werden Sie mir helfen? Ich will das alles vergessen.»
    Erst nickte sie beinahe gütig, doch dann schüttelte sie den Kopf. «Ja, ich werde Ihnen helfen. Aber es geht nicht darum, alles zu vergessen. Sie müssen es in Ihre Persönlichkeit integrieren. Man kann es vielleicht begreifen und bearbeiten. Aber wegmachen kann man es nicht.»
    Er nickte vorsichtig und griff nach ihrer Hand. «Betrachten Sie mich als Ihren Patienten.»
    «Klienten», verbesserte sie und lachte. «Ich werde auch Vivien begleiten. Aber im Moment hat sie, glaube ich, von Rückführungen die Nase voll.»
    Eine Schwester kam herein und bot Ackers die erste feste Mahlzeit an. Ein kurz gebratenes Kotelett, Kartoffelpüree und Erbsen. Zum Nachtisch Apfelmus.
    Ackers schüttelte den Kopf. «Nein danke», sagte er. «Kein Fleisch. Haben Sie vielleicht auch was Vegetarisches?»

    Zur gleichen Zeit gingen Vivien und Tom Hand in Hand auf das Haus von Richard Schneider zu. Vivien hatte sich vorgenommen, Ulla, der neuen Frau, eine Chance zu geben, und hoffte, dass ihr Vater es mit Tom genauso halten würde.
    Ihr Vater öffnete. Er war nervös. Wie sollte er sie begrüßen? Sie einfach in den Arm nehmen und sagen: «Hallo, Vivien, schön, dass du wieder da bist, Kleine»? Musste er vorsichtig sein? Durfte er sie überhaupt anfassen?
    Ihr Zimmer war vorbereitet, das Bett stand jetzt mit dem Kopfende nach Norden.
    Sie schauten einander nur an und dann umarmten sie sich. Vivien flüsterte ihm ins Ohr: «Das Vergangene ist vorbei, Papa. Lass uns noch einmal von vorn anfangen.»

Über Klaus-Peter Wolf
    Klaus-Peter Wolf, 1954 in Gelsenkirchen geboren, lebt als freier Schriftsteller und Drehbuchautor in Norddeutschland.
    Er schrieb u. a. ›Die Abschiebung‹ (1984), ›Traumfrau‹ (1989) und ›Samstags, wenn Krieg ist‹ (1994) und zählt heute zu den erfolgreichsten Autoren deutscher Sprache. Seine Bücher und Filme wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Anne-Frank-Preis, dem Erich-Kästner-Preis und dem Magnolia Award Shanghai. Seine Bücher wurden bisher in 22 Sprachen übersetzt und über 8 Millionen Mal verkauft.

Über dieses Buch
    Für die meisten Menschen ist Vivien einfach nur verrückt. Für Professor Peter Ullrich ist sie jedoch völlig normal und doch etwas ganz Besonderes: Er glaubt, dass bei ihrer letzten Wiedergeburt etwas schief gelaufen ist. Ihr Gedächtnis wurde nicht vollständig gelöscht. So tauchten nach dem tragischen Unfalltod ihrer Mutter wieder Erinnerungen an eine Zeit auf, an die sie sich eigentlich gar nicht erinnern dürfte. Zumindest nicht hier auf diesem Planeten.

Impressum
    Covergestaltung: bürosüd, München
    Coverfoto: Plainpicture/Naturbild
    © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2010
     
    Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
    Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
    ISBN 978-3-10-400726-7

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