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Kaputt in El Paso

Kaputt in El Paso

Titel: Kaputt in El Paso
Autoren: Rick DeMarinis , Frank Nowatzki , Angelika Müller
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einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Du bist zwanzig Minuten überfällig.« Ihre tiefe Stimme passte zu ihrer Erscheinung.
    »Überfällig … wofür?«, fragte ich.
    Sie fuchtelte mit der Hand, als wolle sie Rauch vertreiben. »Komm rein, Strobe. Wir müssen dich noch umziehen.«
    »Uri«, sagte ich. »Nicht Strobe.«
    »Heute Abend bist du Strobe.«
    Langsam dämmerte es mir. »Jerry?«
    Sein Abendkleid aus Goldlamé schimmerte im Licht der untergehenden Sonne. Er trug eine Perücke, einen Bausch aus Haaren à la Jackie Kennedy, und lange, künstliche, perlmuttfarben lackierte Fingernägel. Sein Make-up hingegen war mehr als nachlässig. Die Menge an kegelförmigem Schaumstoff in seinem BH reichte aus, um die Oberweite einer Walküre vorzutäuschen, Brüste, die für eine Frau seiner Statur durchaus angemessen waren. Seine Lacklederpumps waren groß genug, um Ziegelsteine darin aufzubewahren. Ein Tuch im Paisleymuster kaschierte den fleischigen Hals. Erstaunlich graziös vollzog Jerry Farnsworth eine komplette Drehung, verlagerte sein Gewicht dabei auf den rechten Fußballen. Das Lamékleid wirbelte herum und erzeugte regenbogenfarbene Späne im Licht.
    »Gefällt’s dir?«, fragte er.
    Ich räusperte mich. »Du siehst scharf aus«, sagte ich schließlich. Er grinste.
    Der Raum hinter Jerry war riesig – mein Apartment hätte viermal hineingepasst und der eine oder andere begehbare Schrank noch dazu. Das Mobiliar war einerseits hochwertig, andererseits nicht außergewöhnlich – solider dänischer Kram eben. Weiße Wände, weißer Teppich, auf Hochglanz gebrachtes Ebenholz für die Möbel. Der Teppich reichte bis zu einem großzügigen, gefliesten Flur, der in den hinteren Teil des Hauses führte. An den Wänden hingen Bilder. Reproduktionen von Miró. Grundfarben, einfache Formen. Woher ich das wusste? Jeopardy! (›Leuchtende Farben und schlichte Formen charakterisieren die Arbeiten dieses spanischen Künstlers.‹) Trivialwissen klebt an meinem Hirn wie statisch aufgeladener Staub.
    Ich nahm das Klappern hoher Absätze auf Fliesenboden wahr. Mona Farnsworth eilte den Flur entlang. Sie trug ein Tweedkostüm, eine Brille aus Schildpatt und ihre Frisur bestach durch wetterfeste Wellen. Ihr Teint wirkte straff und ebenmäßig. »Du kommst zu spät«, schalt sie mich. June Cleaver, wenn sie ihre Tage hat.
    »Tut mir leid«, sagte ich.
    »Komm mit. Wir müssen dich noch umziehen.«
    »Ich ziehe auf keinen Fall Frauensachen an«, sagte ich mit Blick auf Jerry.
    Zwei Kinder kamen herein, ein pausbäckiger kleiner Junge von vielleicht fünf Jahren und eine etwa zwölfjährige Gruftie-Göre mit großen Augen. »Wer ist denn dieser Muskelberg?«, wollte das Mädchen wissen. Sie hatte kurzes, schwarzes Haar, gelockte Ponysträhnen, gepiercte Augenbrauen und einen Nasenring. Ihre Lippen waren schwarz geschminkt und auf ihren Nägeln schimmerte schwarzer Nagellack. Sie trug Rock und Bluse, ebenfalls in Schwarz. Ihr kalkweißes Gesicht reflektierte das Licht, als wäre die Haut mit einem Lacküberzug versehen. Das Mädchen taxierte mich mit übertrieben dunkel geschminkten Augen, die ihr das Aussehen einer Schwindsüchtigen verliehen. Sie stand einfach nur da, die Hüfte eingeknickt und die Arme unterhalb ihrer drolligen, teetassengroßen Brüste verschränkt. Ihre Nasenflügel bebten, während sie mich musterte, ein Vampir, der die Witterung aufgenommen hatte. Sie war niedlich und unheimlich zugleich, unschuldig und verdorben. Letzteres mit Vorsatz. Wenn sie eine Seele hatte, dann war die älter als Staub.
    »Das sind unsere Kinder, Strobe Champion«, sagte Jerry. »Harry und Babs. Babs, Liebling, würdest du Mr. Champion eine Cola holen? Möchtest du ’ne Cola, Strobe?«
    »Nein«, sagte ich.
    »Du siehst umwerfend aus, Vater«, bemerkte das Mädchen.
    »Danke, Prinzessin«, erwiderte Jerry mit einem Augenaufschlag und drehte sich ein weiteres Mal um die eigene Achse. »Bist du mit den Hausaufgaben fertig, meine Süße?«
    »Seit Urzeiten. Ich sitze gerade über einer Buchbesprechung für meine Sozialkundeklasse. Meine Wahl ist auf Mutters Krafft-Ebing gefallen. Ich habe es zweimal gelesen und liebe das Kapitel über Körperfehler als Fetisch. Und Cantaranos Studie von 1895 über das Zehenlutschen ist total aktuell, werter Vater.« Ihr affektiertes Gebaren stand im krassen Gegensatz zu ihrem unbewegten Gesicht.
    Jerry strahlte vor Stolz. »Sie will sich im Geschäft engagieren – auf die eine oder andere Art. Ich aber
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