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Kantaki 02 - Der Metamorph

Kantaki 02 - Der Metamorph

Titel: Kantaki 02 - Der Metamorph
Autoren: Andreas Brandhorst
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dass sie selbst die Mahlzeit sein würden.
    Der Überfluss an Nahrung war für das Etwas eine Gelegenheit, die es zu nutzen galt. Es wuchs weiter, während es durch die Nacht kroch, umgeben von üppiger Vegetation, einer Welt, in der es nur darum ging, zu fressen und nicht selbst gefressen zu werden. Rezeptoren sammelten Informationen und leiteten sie an ein immer komplexer werdendes neuronales System weiter, das sie im Rahmen der Basisanweisungen des Grundprogramms verarbeitete. Ein Bewusstsein in dem Sinne existierte noch immer nicht, aber im rudimentären Selbst des Etwas keimte eine neue Art von Zielstrebigkeit, die mit der Aufgabe, dem Zweck seiner Existenz in direktem Zusammenhang stand.
    Das Etwas kroch und wuchs, wuchs und krabbelte, als sich kleine Beine formten, die die Fortbewegung erleichterten. Allmählich blieb das Dickicht des Dschungels zurück, und dem Schein der beiden Monde gesellten sich bald Chirons Lichter hinzu. Das Etwas verharrte am Rand eines Verkehrskorridors, und das neuronale System versuchte, eine Entscheidung zu treffen. Im Auftrag der Formationsmatrix hatten die Exekutoren die weitere Differenzierung der Zellen unterbrochen – die Struktur der bereits gebildeten Gliedmaßen sollte temporärer Natur bleiben und bezog sich allein auf die Umstände des Jetzt. Das Etwas wartete, ohne zu wissen, wem oder was dieses Warten galt.
    Schließlich setzte es sich wieder in Bewegung und folgte dem Verlauf des Verkehrskorridors, verborgen im hohen Gras am Rand der glatten Synthomasse. Dinge näherten sich, manche schnell, andere langsam, anorganische Objekte, die sich doch, wie die Geschöpfe im Wasser und auf dem Land, durch zielgerichtete Mobilität auszeichneten. Das rudimentäre Gehirn des Etwas versuchte, die neuen visuellen und akustischen Daten zu verarbeiten, während es einen Richtungswechsel beschloss und den Körper anwies, den Verkehrskorridor zu überqueren. Eins der mobilen Objekte näherte sich schneller als erwartet, und das Etwas konnte nicht ausweichen, geriet unter die Räder eines großen Ferntransporters, der Edelholz aus den Tiefen des Kontinentalwalds nach Chiron brachte.
    Jedes andere Geschöpf wäre unter dem viele Tonnen schweren Fahrzeug zermalmt worden und sofort tot gewesen, aber für das Etwas war die Konfrontation mit dem mobilen Objekt nur eine weitere Erfahrung. Die Formationsmatrix reagierte, und mithilfe der Exekutoren bewirkte sie eine unverzügliche Reorganisation der Zellen. Gespeicherte Energie wurde verwendet, um beschädigte Zellbereiche zu reparieren und zu restrukturieren. Einige Sekunden lang – diesmal spielte die Zeit eine Rolle – blieb das Etwas auf dem Polymerband des Verkehrskorridors liegen. Dann setzte es sich wieder in Bewegung und kroch ins Gras jenseits der Synthomasse, wo es erneut verharrte und die Restrukturierung vervollständigte. Dort, wo zuvor Knorpelstränge dem fester und größer gewordenen Körper Stabilität verliehen hatten, erstreckten sich nun flexible Fasern, die einem höheren Druck standhalten konnten. Nach einer kurzen Pause kroch das Etwas weiter, in der schmalen, von hohem Gras bewachsenen Zone zwischen Verkehrskorridor und Dschungel. Seine Rezeptoren nahmen mit erhöhter Wachsamkeit externe Daten entgegen, denn die jüngste Erfahrung wollte das Etwas nicht wiederholen. Es passierte erste Gebäude, kaum mehr als wacklige Schuppen, und das akustische Ambiente veränderte sich. Das Etwas vernahm Geräusche, die es zum ersten Mal hörte. Das Gehirn blieb rudimentär und noch weitgehend undifferenziert, doch das Grundprogramm der Formationsmatrix wusste etwas mit den akustischen Informationen anzufangen. Das Etwas orientierte sich neu, indem es Geräusche interpretierte, die es eigentlich gar nicht deuten konnte. Es blieb in Bewegung, auf der Suche nach etwas, nach einer Gelegenheit, und es gab dem Faktor Heimlichkeit größere Bedeutung als zuvor. Es mied von Lampen erhellte Bereiche und den Ursprung von Musik und Stimmen.
    Auch die olfaktorischen Rezeptoren registrierten Veränderungen. Der Geruch des Brackwassers dort, wo der Acheron ins Riffmeer mündete, vermischte sich mit dem Gestank ungeklärter Fäkalien. Das Etwas kroch unter einigen auf Pfählen stehenden Hütten hinweg, berührte Kot und stellte fest, dass er ihm Nährstoffe entnehmen konnte. Es kannte keinen Abscheu – menschliche Empfindungen waren ihm fremd. Nützlichkeit stellte die Richtschnur seines Verhaltens dar. Hinter den Hütten beschrieb das Band aus
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