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Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)

Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)

Titel: Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)
Autoren: David Graeber
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historischen Ereignisse nicht sonderlich ermutigend. Doch man kann die Geschichte auch anders erzählen, indem man beispielsweise die Frage stellt: Was wollte die Bewegung wirklich erreichen?
    An dieser Stelle könnte sich eine Darstellung des gesamten Spektrums an Zielen, die die Bewegung verfolgt hat, als hilfreich erweisen:
Kurzfristige Ziele: den Bau des betreffenden Atomkraftwerks (also Seabrook, Diablo Canyon, …) zu verhindern.
Mittelfristige Ziele: den Bau neuer Atomkraftwerke zu verhindern, der Idee der Atomkraft an sich die Legitimation zu entziehen, eine Umorientierung in Richtung Naturschutz und umweltfreundlicher Energieerzeugung einzuleiten
und neue Formen des gewaltlosen Widerstands und der von der feministischen Bewegung inspirierten direkten Demokratie zu legitimieren.
Langfristige Ziele (zumindest für die radikaleren Elemente): den Staat zerschlagen und den Kapitalismus zerstören.
    Wenn wir von diesen Prämissen ausgehen, sind die Ergebnisse offensichtlich. Die kurzfristigen Ziele wurden fast nie erreicht. Trotz zahlreicher taktischer Siege (Verzögerungen, Insolvenzen von Energieversorgungsunternehmen, gerichtliche Verfügungen) gingen die Atomkraftwerke, die im Fokus der Massenaktionen gestanden hatten, letztlich alle ans Netz. Regierungen können es sich schlicht nicht erlauben, aus einer solchen Auseinandersetzung als Verlierer hervorzugehen. Auch die langfristigen Ziele wurden ganz klar nicht erreicht. Allerdings gibt es hierfür einen interessanten Grund: nämlich, dass die mittelfristigen Ziele nahezu umgehend realisiert wurden. Durch die Aktionen wurde der Idee der Atomkraft in der Tat die Legitimation entzogen – das öffentliche Bewusstsein wurde soweit geschärft, dass 1979 durch den Kernschmelzunfall im Atomkraftwerk Three Mile Island das Schicksal der Atomindustrie besiegelt schien. Zwar wurden die Bauvorhaben für die Kraftwerke Seabrook und Diablo Canyon nicht eingestellt, doch praktisch alle weiteren Projekte zum Bau von Kernkraftreaktoren wurden damals auf Eis gelegt; seit nunmehr fünfundzwanzig Jahren sind auch keine neuen Reaktoren mehr geplant worden. Es gab tatsächlich eine Umorientierung in Richtung Naturschutz und grüner Stromerzeugung, und neue demokratische Organisationsformen konnten ihre Berechtigung unter Beweis stellen. All dies geschah letzten Endes viel schneller, als irgendjemand hätte vorhersehen können.
    Im Rückblick ist nun leicht zu erkennen, dass die meisten der späteren Probleme eine direkte Folge des raschen Erfolgs der Bewegung waren. Die Radikalen hatten gehofft, einen Zusammenhang zwischen der Atomindustrie und der Natur des kapitalistischen Systems herstellen zu können, das diese erst hervorgebracht hatte. Allerdings war das kapitalistische System in dem Augenblick, in dem sich die Atomindustrie als Belastung erwies, nur zu gerne bereit, diese aufzugeben, wie sich herausstellte. Auf einmal behaupteten die Energieriesen, auch sie wollten nun grüne Energiequellen nutzen, und sprachen damit praktisch eine Einladung an den Verhandlungstisch aus. Damit war die Verlockung groß, die Seiten zu wechseln, insbesondere für Typen, die man heute NGO-Vertreter nennen würde. Viele von ihnen hatten sich nämlich nur deshalb mit radikaleren Gruppen verbündet, um sich auf diese Weise einen Platz am Verhandlungstisch zu sichern.
    Diese Entwicklung führte unweigerlich zu einer Reihe hitziger strategischer Debatten. Um dies zu verstehen, muss man wissen, dass strategische Debatten innerhalb direktdemokratischer Bewegungen selten als strategische Debatten geführt werden. Fast immer gibt man vor, über etwas ganz anderes zu diskutieren. Nehmen wir zum Beispiel die Frage nach dem Kapitalismus. Antikapitalisten brennen normalerweise darauf, ihre Position bei diesem Thema darzulegen. Liberale hingegen mögen es gar nicht, wenn sie gezwungen werden zuzugeben: »Eigentlich bin ich ja schon dafür, den Kapitalismus in der einen oder anderen Form zu erhalten.« Lieber wechseln sie schnell das Thema. Debatten, in denen es in Wirklichkeit darum geht, ob der Kapitalismus grundsätzlich infrage gestellt werden soll oder nicht, werden folglich so ausgetragen, als würde man nur eine kurzfristige Diskussion über Taktik und Gewaltlosigkeit führen. Auch autoritäre Sozialisten oder
andere Personen, die der Demokratie misstrauen, legen selten Wert auf eine solche Debatte; lieber diskutieren sie über die Notwendigkeit, möglichst breit angelegte Bündnisse zu schmieden.
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