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Kameraden: Die Wehrmacht von innen (German Edition)

Kameraden: Die Wehrmacht von innen (German Edition)

Titel: Kameraden: Die Wehrmacht von innen (German Edition)
Autoren: Felix Römer
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neuen Sozialwissenschaften inzwischen lieber mit überindividuellen Strukturen als mit Menschen. Das Bedürfnis der Öffentlichkeit nach leicht verständlichen Antworten wurde erst 1995 durch die Wanderausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944« befriedigt. Sie fielen so schockierend aus, dass eine bis heute nachwirkende Debatte folgte. Die von Hannes Heer verantwortete Wehrmachtsausstellung erklärte ebenso suggestiv wie pauschal die gesamte Wehrmacht zum »marschierenden Schlachthaus« und alle ihre Soldaten zu NS-Tätern, die aus ideologischer Überzeugung massenhaft zu Kriegsverbrechern und Mördern geworden seien. Auch wenn die Ausstellung wegen gravierender Mängel durch eine neue, seriöse Version ersetzt werden musste, hat sie das Geschichtsbild von der Wehrmacht und ihren Soldaten nachhaltig geprägt. Sie hat Diskussionen angeregt – in der Gesellschaft, in der Wissenschaft, in den Familien. Inwieweit sie den Dialog mit den Beteiligten eher vergiftete als förderte, da sich nun jeder ehemaliger Wehrmachtsangehörige unter Generalverdacht gestellt sah, muss offen bleiben. Die historische Forschung jedenfalls profitierte vom Schub der öffentlichen Debatte. Auf die Frage, wie viele Soldaten an Kriegs- und NS-Verbrechen beteiligt waren, wusste sie allerdings keine Antwort – dieses Problem ist empirisch kaum zu lösen. Doch auch die Suche nach den Rahmenbedingungen, Wahrnehmungsmustern und Motivlagen, die aus dem »normalen« Handeln von Soldaten die Übergriffe und Exzesse in extremen politisch-ideologischen und militärischen Konstellationen werden ließen, gestaltete sich schwierig.
    Der Zeithistoriker, der den Biografien und Mentalitäten der einfachen Soldaten auf den Grund gehen will, stößt ebenso auf Quellenprobleme wie der nach der NS-Vergangenheit in seiner Familie fragende Nachgeborene. Die Militärakten besitzen einen anderen Fokus, die Nachkriegserinnerungen sind zigfach gefiltert, die Feldpost unterlag der Zensur und Selbstzensur, Tagebücher liegen selten vor. So war die Entdeckung der Vernehmungs- und Abhörprotokolle vieler Tausend deutscher (und italienischer) Kriegsgefangener in britischem und amerikanischem Gewahrsam ein Glücksfall, der Bewegung in die Erforschung der Soldaten unterhalb der bereits hinreichend untersuchten Generalselite bringt. Das Material erlaubt einen neuen Blick auf die Mentalität und das Rollenverständnis deutscher Soldaten. Hier sprechen Kameraden miteinander über den Krieg, kurz nach den Ereignissen, vermeintlich unter sich, daher ungeschützt und, trotz aller Anpassung an den Gesprächspartner, ohne die Rücksichten der Feldpost und gegenüber ihren Angehörigen. Eine Gruppe von Wissenschaftlern, geleitet vom Historiker Sönke Neitzel und dem Sozialpsychologen Harald Welzer, nahm sich der Auswertung dieses spektakulären Funds an. Das erste größere Resultat ihrer Arbeit war das gemeinsam von Neitzel und Welzer verfasste Buch Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, das 2011 erschien und für großes Aufsehen sorgte.
    Die Interpretation der beiden Autoren ist auf ihre Weise nicht weniger pointiert als die These der Wehrmachtsausstellung. Hannes Heer und sein Team orientierten sich an der historischen Sozialwissenschaft, für die das Denken und Handeln des Individuums durch die Gesellschaft und die in ihr vorherrschende Ideologie determiniert wird. Neitzel und Welzer argumentieren dagegen vor allem militärsoziologisch und sozialpsychologisch. Für sie ist die entgrenzte Kriegführung der Wehrmacht weniger in der NS-Ideologie als in der konkreten Lebenswelt und unmittelbaren Sinneswahrnehmung der Soldaten angelegt. Im Wettstreit der Paradigmen Intention versus Situation entscheiden sie sich für die handlungsleitende Bedeutung situativer Faktoren. Demnach wurden die deutschen Soldaten zu Tätern, weil sie Soldaten waren und sich im Referenzrahmen »Krieg« so verhielten, wie sich Soldaten unter vergleichbaren Bedingungen eben verhalten. Soldatische Gewaltpraktiken bis hin zu Verbrechen können über diesen Zugang als – quasi normale – anthropologische Konstanten und universale Automatismen gedeutet werden, verursacht durch situative und soziale Dynamiken. Folgt man dieser Sicht, so spielen ideologische Dispositionen und vorgeprägte Wahrnehmungen höchstens eine untergeordnete Rolle. Zeigen sich im Sonderbereich des Krieges tatsächlich stets dieselben soldatischen
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