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Kaltes Herz

Kaltes Herz

Titel: Kaltes Herz
Autoren: Charlotte Freise
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einfache Möbel, zwei gute Notenständer und ein gebrauchtes Piano für Hetti.
    «Und was soll ich anziehen? So kann ich doch nicht gehen.»
    Damit hatte sie allerdings recht. Das Kleid, das sie trug, spannte über dem Bauch und den Brüsten und war daher vorne so kurz, dass man beinahe ihre Knie sehen konnte.
    «Wir nehmen das Geld, das dein Vater uns geschickt hat, und gehen einkaufen.»
    «Das Geld brauchen wir für den Winter, für Babysachen und warme Mäntel. Es ist nicht mehr lange bis dahin.»
    «Du wirst ein Phänomen sein, Hetti, und dann brauchen wir das Geld nicht mehr. Wir brauchen es
jetzt

    «Und wenn sie mich dann nicht nehmen?»
    «Sie nehmen dich, weil ich dich kenne und weil du um dein Leben singen wirst.»
    Hetti sagte nichts mehr, und Charlie sah, dass sie die Tränen zurückhalten musste. Es tat ihm leid, dass er sie so bedrängte, und in gewisser Weise verstand er ihr Zögern sogar. Solange sie es nicht versuchte, konnte sie auch nicht scheitern. Es musste vernichtend sein, ausgerechnet an der Sache zu scheitern, die einem im Leben am allerwichtigsten war.
    Charlie stand von seinem Platz am Esstisch auf, kniete sich neben Hetti, nahm ihre Hand mit den langen, schmalen Fingern, die er so liebte, und schmiegte seine Wange hinein. Die Hand war eiskalt.
    «Hetti, erinnerst du dich an unseren gemeinsamen Ort?»
    «Natürlich», sagte sie gepresst.
    «Wann sind wir zuletzt dort gewesen?»
    Sie entzog ihm ihre Hand, nervös und voller Ungeduld.
    «Du musst unbedingt zuerst
Flüchtige Schatten
vortragen. Als Zweites den
Wolkenbrunnen
und zuletzt
Kaltes Herz
. Das sind die drei besten, die wir bisher geschrieben haben.»
    «Aber das sind doch bloß Kinderlieder.»
    Charlie schüttelte heftig den Kopf und stand auf.
    «Wenn du sie mit Kleinmädchenstimme singst, dann sind es Kinderlieder. Aber du hast auch eine große Stimme, eine Stimme, die in die Tiefe geht. Nutze sie, wage dich endlich hervor, dann werden es ewige Lieder sein!»
    Charlie wollte nicht wütend werden, nur reizte ihr Schweigen ihn noch mehr als der Widerspruch.
    «Herrgott, du musst jetzt endlich anfangen, wieder an dich zu glauben. So wie
ich
an dich glaube!»
    «Ich bin nur eine ganz normale Frau, Charlie», sagte sie, jetzt ebenfalls heftig. «Vielleicht erwartest du zu viel von mir. Dass ich ein Kind bekomme, dir eine gute Frau bin. Und hart arbeiten soll ich an mir, immer üben, abends mit dir zusammen komponieren und reich und berühmt werden, womöglich sogar ein Phänomen. Warum? Wozu?»
    Charlie sah sie fassungslos an. «Glaubst du etwa, dass ich dich nur ausnutzen will?»
    Hetti atmete tief durch. «Entschuldige. Nein, das glaube ich natürlich nicht. Nur, manchmal denke ich … Du hast eine Vorstellung von mir, die gar nicht der Wirklichkeit entspricht. Du siehst immer noch das Ideal in mir. Aber ich bin wirklich … nur eine Frau. Verstehst du das denn gar nicht?»
    «
Nur
eine Frau? Welcher Mann könnte singen wie du? Wer könnte seine Zuhörer so tief hinabreißen und so hoch hinauf, nur mit seiner Stimme? Selbst Mrs. Hulster hast du vollkommen verwandelt. Sie hat geheult wie ein Schlosshund!»
    Gegen ihren Willen musste Hetti bei dieser Erinnerung lachen. Mrs. Hulster wohnte über ihnen, und sie hatte es sich angewöhnt, mit dem Besenstiel auf den Fußboden zu pochen, wenn Hetti übte. Einmal hatte es ihr gereicht, und sie war heruntergekommen. Zum Glück war Charlie zu Hause gewesen. Er hatte sie freundlich hereingebeten und Hetti gesagt, sie solle doch bitte den
Wolkenbrunnen
für sie singen, während Charlie sie auf der Violine begleitete. Mrs. Hulster waren nicht nur die Tränen über die dicken Wangen gelaufen, sie kam jetzt auch öfter herunter, wenn Hetti sang. Sie war so etwas wie ihr erstes Testpublikum geworden. Wenn Mrs. Hulster weinte, dann würde auch jeder andere Tränen vergießen.
    «Du meinst, ich soll da wirklich hingehen?»
    «Du sollst? Du musst!»
    «Und ich soll wirklich unsere eigenen Lieder singen? Nichts von den Standards?»
    «Nur unsere eigenen Lieder.
Deine
Lieder.»
    «Auf Deutsch?» Hetti klang immer noch skeptisch, aber Charlie wusste, dass er die Schlacht diesmal gewinnen würde.
    «Das ist ohne Bedeutung. Nicht die Worte machen die Musik. Es ist deine Stimme. Sie enthüllt jede einzelne Bedeutungsnuance. Die ganze Welt wird deine Musik verstehen, wird ihren Kern erspüren, wird erschüttert sein, weil deine Stimme … nicht einfach nur ein beliebiger Vermittler von Musik ist, sie
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