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Kaltes Herz

Kaltes Herz

Titel: Kaltes Herz
Autoren: Charlotte Freise
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Konnte man so etwas überhaupt von einem Mann sagen? War Schönheit nicht ein Attribut, das Frauen vorbehalten war? Henriette dachte daran, wie er sich hielt, wie er ging; es war beinahe ein Stolzieren, strotzend vor Selbstbewusstsein, aber es hatte nichts Manieriertes oder Übertriebenes an sich. Es zeigte einen Menschen, der … etwas verkörperte? Aber was?
    Henriette war schnell gelaufen, sie war außer Atem und verlangsamte ihren Schritt und stellte fest, dass sie sich in dieser spärlich bebauten Gegend überhaupt nicht auskannte. Sie drehte sich um sich selbst, um die Orientierung zurückzugewinnen, das Kleid hing schwer an ihr und klebte an den Beinen, und sie fror so sehr, dass sie mit den Zähnen klapperte. Aber das war gut, es brachte sie wieder zurück in die Wirklichkeit und zur Vernunft.
    Es gab keine geheimnisvolle Sehnsucht, keine existenzielle Einsamkeit, und es gab auch keine Vertreibung aus irgendeinem Paradies, in dem sie niemals gewesen war. Sie war einfach nur Henriette, die im Regen stand und in diesem Zustand ganz sicher nicht zu Professor Altheim zurückgehen würde, um sich von Charlie Jackson abholen und nach Hause bringen zu lassen. Je mehr sie fror, desto klarer wurde ihr Kopf. Henriette breitete die Arme aus, legte den Kopf in den Nacken und ließ den Regen in ihren geöffneten Mund und die Augen laufen, ließ sich reinwaschen. Fort mit diesen Gedanken, die sie nicht denken sollte! Weg damit!

[zur Inhaltsübersicht]
    3
    H ier rein!»
    Charlie zog Henriette am Ellenbogen in eine schmutzige, von davonflatternden Hühnern bevölkerte Gasse hinter der Brauerei. Obwohl die Situation absurd, sogar bedrohlich war, war er glücklich. Alles, was er mit Henriette erlebte, machte ihn glücklich. Heute früh hatte es ihn glücklich gemacht, als sie auf dem Markt zusammen die ersten Erdbeeren gegessen hatten und Henriette Keller über die roten Flecken auf ihren Handschuhen nur gelacht hatte. Und jetzt machte es ihn glücklich, dass sie trotz der langen Röcke ebenso schnell rannte wie er. Auf der Bühne war sie so erhaben, er war jeden Abend in der Vorstellung, versuchte ihrer Magie auf die Spur zu kommen. Was verwandelte sie von einem echten Menschen in jene bezwingende Göttin, die auf der Bühne erschien? Jeden Abend brachte er sie sicher nach Hause, und er war stolz darauf, dass sie so weit über ihm stand, unantastbar, und mehr noch als das machte es ihn stolz, dass er mit ihr rennen, mit ihr lachen, sich mit ihr hinter Bretterzäunen verstecken durfte, als seien sie unschuldige Kinder, die noch nie einen Gedanken an das verschwendet hatten, was jenseits dieser Zeit kam. Eine Zeit, die Charlie im Grunde niemals erlebt hatte. War er je ein unschuldiges Kind gewesen? Er konnte sich nicht daran erinnern.
    Charlie wandte sich um, während er weiterrannte. Dort stand er, am Eingang der Gasse, mit abschätzendem Blick. Charlie begriff, dass er nur rannte, weil Henriette rannte. Er sollte stehen bleiben, er sollte den Mann mit dem Opernglas zur Rede stellen. Auch wenn Henriette es nicht wahrzunehmen schien, nie schien er weiter als zwei Ecken entfernt zu sein. Henriette hatte recht, er tat nichts als schauen, und Charlie wollte sie nicht zu sehr beunruhigen, doch es machte ihm zunehmend Sorge, dass er den Mann nicht abschütteln konnte. Gestern war er sogar in Weißensee aufgetaucht, wo Charlie nördlich des Güterbahnhofs bei Frau Liese ein Zimmer gefunden hatte, das er nicht mit anderen Schlafburschen teilen musste. Als er früh um halb sieben das Haus verlassen und sich auf den Weg in die Innenstadt gemacht hatte, da hatte er an der Straßenecke gestanden und ihn offen gemustert, bevor er wieder im Gewühl verschwunden war. Und jetzt war er schon wieder da, wie aus dem Nichts aufgetaucht. Charlie und Henriette waren aus der Straßenbahn gestiegen, er wollte ihr den Rummel zeigen, weil sie noch nie auf einem gewesen war. Und keine Armlänge von ihnen entfernt hatte der Mann dagestanden, bewegungslos wie ein Standbild. Henriette hatte geschrien und war gerannt, kopflos wie das Hühnervolk zwischen ihren Füßen, und Charlie war ihr nachgelaufen, und dann hatte er sie in diese Gasse gezogen, die, wie der hohe Bretterzaun, kein Ende zu nehmen schien. Plötzlich wurde er von Henriette nach links gerissen, durch eine schmale Tür im Zaun. Charlie verlor das Gleichgewicht, kam stolpernd wieder auf die Füße.
    «Da lang!», wisperte Henriette.
    Ihre Wangen waren gerötet, ihr Busen hob und senkte sich in
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