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Kaltes Herz

Kaltes Herz

Titel: Kaltes Herz
Autoren: Charlotte Freise
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ein seltsamer Ausdruck lag in seinen Augen. Verärgerung? Vielleicht Ekel?
    «Entschuldigung», sagte Henriette. «Ich fange noch mal von vorne an.»
    Sie setzte erneut an, doch der Professor unterbrach sie.
    «Nein, singen Sie genau das, was Sie eben gesungen haben.»
    Es war nur ein Ton, den Henriette verändert hatte, eine winzige, fast unsichtbare Modulation, aber als sie sie wiederholte, entfaltete sie eine seltsame Intensität, die sie nicht benennen konnte.
    «As-Dur nach E 7 », murmelte der Professor und schlug die beiden Akkorde nacheinander an. Er lächelte, zum ersten Mal heute.
    «Sie haben Grundton und Quinte als Dur-Terz und Dur-Septime des nächsten Akkords genommen?»
    Henriette nickte. «Es war nur ein Versehen. Ich … es …» Sie wusste selbst nicht, warum sie es gemacht hatte. Es hatte sich in dem Moment einfach richtig angefühlt.
    «Ist das nicht erstaunlich?», sagte der Professor. «Noch einmal bitte.»
    Henriette wiederholte die Modulation.
    «Und jetzt einen Ton tiefer», sagte der Professor. «E 7 zu A.»
    Sie sang, und ihre Brust wurde eng, es war wie Heimweh, aber so als gäbe es auf der ganzen Welt keinen einzigen Ort mehr, an den sie hätte gehen können.
    «D 7 zu G.»
    Henriette sang, und die Stimme des Professors klang rau, als sie schließlich innehielt.
    «Es ist nur eine Begleitung für eine einfache kleine Moll-Ballade. Dennoch, ich habe noch nie eine Modulation gehört, die einen so tiefen Schmerz ausdrückt.»
    «Es ist eine Art Sehnsucht», versuchte Henriette zu erklären.
    Nur hatte sie keine Ahnung, wonach. Es war quälend, und auf unerklärliche Art schien dieses Gefühl mit Charlie Jackson zusammenzuhängen. Sie redeten über Musik, über das Theaterleben, er kannte sich gut aus, und er prophezeite ihr Erfolg und großen Ruhm. Der Wunsch nach Erfolg kam ihr unangemessen, beinahe unanständig vor. Möglicherweise hatte sie sich von Charlie etwas in den Kopf setzen lassen, das ohnehin unerreichbar war.
    «Noch einmal bitte, die ganze Progression. Ich übernehme die Akkorde, Sie improvisieren eine Melodie. Bleiben Sie bei den oberen Tönen, etwas Schwebendes, Leichtes, bitte.»
    Henriette vergegenwärtigte sich noch einmal die Akkordfolge, um dann frei zu sein für die Emotion, die aufsteigen mochte. Es war eine eindringliche, gespenstische Ahnung von Einsamkeit und Entfremdung. Es war, als ob sie jäh in Ungnade gefallen wäre, wie eine Vertreibung, und es gab kein Zurück. Was hatte das mit Charlie Jackson zu tun? Sie vertraute ihm, sie fühlte sich wohl in seiner Nähe, gelöst, sogar ausgelassen. Trotz dieses Hauchs von Gefahr, der dabei immer mitschwang. Oder vielleicht sogar gerade deswegen. Weil sie nicht wirklich an die Gefahr glaubte, es war mehr wie ein aufregendes Räuber-und-Gendarm-Spiel. Nur dass der fremde Mann, der sie aus dem Schatten heraus anblickte, tatsächlich existierte. Er war nicht bloß ausgedacht, und es war sicher mehr als leichtsinnig, sich ganz allein auf Charlie zu verlassen und niemanden sonst ins Vertrauen zu ziehen. Warum also verheimlichte sie Charlie und den Fremden vor ihrer Mutter? Und was hielt sie davon ab, Professor Altheim von dieser neuen Sehnsucht nach den großen Bühnen der Welt zu erzählen? Henriettes Kehle wurde eng, die Töne kamen nicht mehr rein und klar, sondern zitternd aus ihr heraus.
    «Einfach weitersingen», sagte Altheim, und sein Tonfall ließ keine Widerrede zu.
    Es war Angst, Henriette hatte einfach Angst, dass sich das alles als Illusion erweisen oder dass es im Gegenteil alles wahr sein könnte. Dass sie ein großes Talent besaß, dass sie zu Höherem bestimmt war, wie Charlie behauptete. Sie wusste nicht, welche Möglichkeit erschreckender war, alles Leichte und Einfache schien für immer vorbei zu sein, und je länger sie sang, desto stärker wurde das Gefühl des Abgetrenntseins, es steigerte sich zu einem fast körperlichen Schmerz, und schließlich hielt sie inne, regungslos, leicht nach vorne gekrümmt.
    «Professor … mir ist nicht gut.»
    Der Professor warf die Klavierbank um, als er aufsprang, um Henriette zu stützen.
    «Sie sind ja weißer als Papier», sagte er und manövrierte sie auf eines seiner zahlreichen Sofas.
    Silbrige Irrlichter tanzten vor ihren Augen.
    «Ich mache Ihnen einen Tee», sagte der Professor, verschwand in den Tiefen seiner chaotischen Wohnung und kam gleich darauf zurück.
    «Der stand noch auf dem Herd. Trinken Sie.»
    Henriettes Hände zitterten so sehr, dass sie das
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