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Kalter Mond

Kalter Mond

Titel: Kalter Mond
Autoren: Giles Blunt
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vorzudringen. Außer dem Piepton der Monitore und dem gelegentlichen leisen Klirren von Metall herrschte äußerste Stille. Ab und zu bat Dr. Schaff um ein anderes Instrument – einen »McGill«, einen »Foster«, einen »Bircher«.
    Während Cardinal zusah, wie ein Stück rostfreier Stahl von beträchtlicher Länge millimeterweise immer tiefer in das Gehirn des Mädchens vordrang, fühlten sich seine Knie definitiv wie Pudding an. Es half auch nicht, aufzuschauen. Der Monitor zeigte denselben Vorgang in seitlicher Großaufnahme. Er fühlte sich, als taumelte er in Zeitlupe einen Aufzugschacht hinab. Unter seiner OP-Kappe sammelte sich der Schweiß.
    Zwei Stunden vergingen. Drei. Die Ärzte machten gelegentliche Bemerkungen, kommentierten den Puls, den Blutdruck der Patientin. Es wurde nach Arterienklemmen und Spreizern und einem Kauter verlangt. Dr. Schaff sprach Red gelegentlich an, während sie sich weiter in ihr Hirn vorarbeitete.
    »Geht’s, Red? Alles klar?«
    »Mir geht’s gut, Doktor. Alles bestens.«
    Um seinen Magen zu beruhigen, konzentrierte sich Cardinal auf die Hintergrundgeräusche, den Piepton der Monitore, das Surren der Klimaanlage und der Lampen. Auf dem Bildschirm erschien das Instrument als ein Strich aus leuchtendem Metall etwa acht bis zehn Zentimeter im Kopf des Mädchens.
    »Nähern uns dem Hippocampus …«
    Red fing zu singen an. »Im Frühtau zu Berge wir zieh’n, fallera …«
    »Ja, wir kommen auch ganz gut voran, Red. Ich denke, wir haben’s gleich.«
    »Wir sind hinausgegangen, den Sonnenschein zu fangen …«
    »Okay, wir sind da«, sagte Dr. Schaff. »Ich schnapp sie mir jetzt.«
    Auf dem Monitor befand sich der dunkle Fleck der Kugel nun im richtigen Greifwinkel der flachen Klemmbacken. Das Instrument trat langsam den Rückzug an. Cardinal hatte eine Tochter etwa im gleichen Alter wie Red, vielleicht ein bisschen älter. Ihn überkam ein mächtiger Vaterinstinkt, die Hand auszustrecken und die junge Frau irgendwie zu beschützen – was streng genommen absurd war, da sie nicht die geringsten Schmerzen empfand.
    Red meldete sich im Plauderton. »Die Wolken waren unglaublich.«
    »Tatsächlich?«, erwiderte Dr. Schaff. »Wolken, heh?«
    Auf dem Monitor bewegte sich die Kugel stetig durch den engen Kanal. Cardinal wandte den Blick zu Dr. Schaff. Ihre Handschuhe waren glitschig rot.
    Auf einmal klang Red ganz anders. »Die Fliegen«, sagte sie in gedämpftem, fast ehrfürchtigem Ton. »Mein Gott, die Fliegen.«
    Dr. Schaff beugte sich über ihre Patientin. »Reden Sie mit uns, Red?«
    »Sie hat die Augen geschlossen«, sagte jemand anders. »Es ist eine Erinnerung. Oder vielleicht ein Traum.«
    Cardinal wartete gespannt, was das Mädchen noch sagen würde, doch sie machte die Augen wieder auf und starrte ins Leere.
    Wenig später zog Dr. Schaff die Kugel heraus. Eine Schwester hielt ihr einen Beutel hin, in den die Ärztin das Projektil fallen ließ. Cardinal nahm ihn entgegen. Er ging in den Vorbereitungsraum und zog seine OP-Sachen aus. Als er den Beutel in seine Brusttasche steckte, spürte er einen Moment später an der Stelle etwas Warmes – die Wärme von Reds Gehirn.

3
     
    C ardinal schlief drei Stunden in der blütenweißen Bettwäsche des Best-Western-Hotels. Nach einer kochend heißen Dusche, die glatt eine Hautschicht abtrug, ging er in die Cafeteria hinunter, wo er auf einem zähen Kotelett herumkaute, während er den
Globe and Mail
überflog. Draußen fiel die Morgensonne schräg über die Ufer und die Versicherungsgebäude. Die Luft war frisch, und mit Genugtuung registrierte Cardinal, dass es keine Kriebelmücken gab. Er ging zum Institut für Gerichtsmedizin in der Grosvenor Street und lieferte die Kugel ab, wozu einige Formulare auszufüllen waren. Sie sagten, er solle in einer Stunde wiederkommen.
    Cardinal kehrte ins Hotel zurück und bezahlte seine Rechnung.
    Er war schon nach einer Dreiviertelstunde zurück. Der junge Mann in der Abteilung für Schusswaffendelikte, der mit dem Fall betraut worden war, hieß Cornelius Venn. Er trug ein weißes, kurzärmeliges Hemd mit blauer Krawatte und hatte das sauber-adrette, ein wenig einfältige Aussehen eines Pfadfinderführers. Cardinal tippte auf eine stattliche Sammlung Modellflugzeuge.
    Venn nahm die Polaroidfotos, die Cardinal ihm gegeben hatte, und heftete sie an eine Korkwand. »Sauberes rundes Loch. Keine Verbrennung, keine Rußpartikel, nur eine Spur Tätowierungseffekt.«
    »Und das sagt Ihnen was?«
    »Oh,
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