Kalter Grund - Almstädt, E: Kalter Grund
Jens Petersen gefunden hat ...«, rief Bettina ihr zu. Pia versuchte einen Augenblick Zeit zu gewinnen, um ihre Gedanken zu ordnen. Es war nicht nur die natürliche Abneigung dagegen, in dieser Nussschale über den See auf ein gottverlassenes Inselchen zu rudern. Es war noch etwas anderes, das sie störte.
»Torge hat mir erzählt, Sie hätten ihm einmal hier am See das Leben gerettet«, sagte sie, um Zeit zu gewinnen. Bettina und Jens sahen sich kurz an. Dann meinte Jens mit einem Anflug von Stolz in der Stimme:
»Genauer gesagt, war es im See. Er ist viel zu weit hinausgeschwommen und Bettina bekam es mit der Angst zu tun. Sie bat mich um Hilfe, darum bin ich ihm hinterhergeschwommen. Jeder hätte das getan, in der Situation ...«
»Jeder, der gut genug schwimmen kann«, ergänzte Bettina.
»Ein glücklicher Zufall, dass Sie gerade in der Nähe waren ...«, antwortete Pia mechanisch. In ihrem Gehirn verknüpften sich bislang zusammenhanglose Informationen. Jens’ Blick bekam etwas Lauerndes. Er streckte die Hand aus, um ihr ins Boot zu helfen. Pia trat instinktiv einen Schritt zurück.
Plötzlich sah sie die Dinge in einem völlig anderen Licht. Sie dachte an das, was Agnes über Elise gesagt hatte: Hellblondund blauäugig »wie ein Engel« hatte sie ausgesehen, ganz anders als Torge und Sina, ihre Geschwister, die beide dunkel waren. Und nun standen dort Bettina und Jens zusammen. Auch Petersen war blond und hellhäutig, im Gegensatz zu dem eher dunklen Kay Rohwer. Und Jens und Bettina waren unverkennbar vertraut miteinander. Wenn nun Petersen der gesuchte Liebhaber war? Und Elise sein Kind, nicht das von Kay? Es konnte das fehlende Motiv sein, das Motiv für Jens, Malte Bennecke, und vielleicht auch seine ganze Sippe, so sehr zu hassen, dass er sie ermordet hatte.
Pia vertraute ihrem Instinkt und dieser ließ im Moment alle Warnleuchten in ihrem Gehirn blinken. Sie war unfähig, in das Ruderboot zu steigen. Was hatte Jens Petersen vor? Es ergab keinen Sinn. Wenn sie allerdings noch länger wie angewurzelt stehen blieb, musste er Verdacht schöpfen, egal was er vorhatte.
»Warten Sie mal kurz«, sagte sie und schickte sich an, das Bootshaus zu verlassen. Vielleicht konnte sie draußen kurz telefonieren. Jens’ Reaktion darauf überraschte sie völlig: Er riss Bettina an sich, diese schrie auf, Pia sah das Blitzen von Metall und den Bruchteil einer Sekunde später registrierte sie, dass Bettina eine etwa 20 cm lange Messerklinge an der Kehle hatte.
»Nein, Sie bleiben hier«, sagte Jens Petersen bestimmt.
Bettina war blass geworden und gab vor Schreck eine Art gurgelndes Geräusch von sich, das Jens veranlasste, sie noch etwas fester an sich zu ziehen. So standen sie in dem kippeligen Boot, Bettina vor Jens und die scharfe Klinge des Messers direkt an Bettinas Kehle. Eine unbedachte Bewegung, ein Ausbalancieren der Schaukelbewegungen und das Messer würde in Bettinas Hals einschneiden. Pia erstarrte. Als sie sprach, hörte sie überrascht, dass ihre Stimme völlig ruhig klang:
»Schon gut, Petersen. Ich komme mit. Sie mögen Bettinasehr, nicht wahr? Ich glaube nicht, dass Sie ihr etwas antun wollen.«
Ein wehmütiger Schatten flog über Jens Petersens Gesicht:
»Was wissen Sie denn schon davon, Frau Korittki? Wissen Sie, was Liebe ist? Haben Sie einen Mann? Kinder? Sie sind doch wie die meisten Frauen heute. Nichts als eine schöne Fassade. Dahinter sind sie kalt und berechnend. Es täte mir nicht sehr Leid um Sie, wenn Ihnen etwas passieren sollte. Bettina habe ich geliebt. Um sie täte es mir Leid, obwohl sie mich verraten hat. Aber ich werde nichts riskieren. Kommen Sie jetzt in das Boot und nehmen Sie die Ruder. Sie werden uns zur Insel hinüberrudern.«
Trotz der grotesken Situation traf Pia für einen Moment der Vorwurf, sie sei kalt und berechnend. Es war allerdings nicht der geeignete Moment, darüber nachzusinnen. Sie schätzte ihre Möglichkeiten ab, während sie langsam in das verhasste Boot stieg, die Augen auf Jens Petersen gerichtet. Sie hatte in der letzten Stunde nicht nur einen, sie hatte viele Fehler gemacht: Niemand wusste, wo sie war. Sie hatte zwar eine Waffe, konnte aber zurzeit keinen Gebrauch davon machen. Sie hatte ihr Leben und das von Bettina Rohwer aufs Spiel gesetzt, weil sie zu spät geschaltet hatte. Nun, wo Jens Petersen seine Verstellung aufgab, hatten sich der Ausdruck seiner Augen und seine gesamte Mimik völlig verändert. Es war, als wäre etwas Animalisches
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