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Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Titel: Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft
Autoren: Heide Fuhljahn
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Räubertochter überforderte mich schon; die Geschichte war komplex, sie verlangte eine Aufmerksamkeit, die ich nicht hatte. Die Krankheit hatte meine Lesefähigkeit einfach aufgefressen. Konzentrationsmangel ist eine der schlimmsten und eine der am meisten unterschätzten Beeinträchtigungen der Depression. Neben den Jugendbüchern reichte es bei mir nur noch dazu, Zeitschriften wie Gala und Bunte durchzublättern. Ging es mir besser, merkte ich das zuerst daran, dass ich wieder einen Zeit -Artikel durchlesen konnte.
    Was hatte ich eigentlich in der Zeit nach der Trennung von Philipp gemacht? Bei den meisten Menschen strukturiert der Job den Tag. Das war bei mir auch so gewesen. Doch weil ich in Teilzeit arbeitete, mich nur drei Tage in einem Büro aufhielt, war ich vier Tage in der Woche zu Hause. Eigentlich wollte ich währenddessen frei für andere Zeitschriften schreiben. Doch es ging nicht. Und wenn man nicht arbeiten kann, sind da auf einmal täglich acht, neun Stunden, die gefüllt werden wollen. Für die meisten meiner Freunde, nicht nur für Maren, wäre die Aussicht auf einen freien Tag sicher himmlisch. Aber wenn es jede Woche vier Tage sind, an denen man sich mies fühlt und nichts mit sich anzufangen weiß, ist das grauenhaft.
    Die Last der freien Zeit wurde in der Krise schleichend schlimmer. Auf meinem kleinen Schreibtisch im Wohnzimmer stapelten sich neben meinem Computer die Briefe. Ich musste meine Steuererklärung machen, eine Reisekostenabrechnung, der Krankenkasse zurückschreiben. Müde hob ich jedes einzelne Blatt Papier hoch, las zerstreut, was der Absender von mir wollte, merkte, dass ich es nicht begriff, und legte das Schriftstück wieder auf den wachsenden Stapel neben meiner PC -Tastatur. Dumpf, wie unter einer Käseglocke, starrte ich auf meinen Bildschirm. Siebzehn E-Mails im Posteingang. Eine von einer Freundin aus England, ich hatte mich lange nicht bei ihr gemeldet. Doch die E-Mail zu beantworten kam mir vor, als sollte ich eine Hausarbeit schreiben. So beendete ich das Programm, schaltete den Computer aus und legte mich wieder ins Bett.
    Meine Schlafstörungen hatte ich lange Zeit als gottgegeben akzeptiert, auch weil ich wusste, dass Schlafmittel süchtig machen können; aber irgendwann war eine Grenze erreicht. Im Juni konnte ich meinen Therapeuten endlich überzeugen. »Es geht so nicht weiter«, beschwor ich ihn. »Seit vier Monaten habe ich keine Nacht mehr durchgeschlafen. Jeden Tag fühle ich mich, als hätte ich Fieber. Alles erscheint mir merkwürdig verzerrt. Ich kann nicht mehr.« Dr. Levi verschrieb mir Zolpidem, drei Tage die Woche durfte ich abends zehn Milligramm nehmen. Zu arbeiten, zu funktionieren, wurde damit leichter. Doch nicht, wenn man den Tag mit irgendwas füllen musste. Wenn ich genügend Geld gehabt hätte, hätte ich mir das Elend angenehmer gestalten können. Ich hätte zum Beispiel zur Massage gehen können, in eine Wellnessoase, und in dem Spa bequemer herumdümpeln können als auf dem Sofa. Doch an meiner inneren Verfassung hätte das wohl auch nicht viel geändert.
    Früher machte ich viel Sport, fünf Stunden die Woche. Der Clou dabei war: Wer regelmäßig trainiert, wer sich über einen gewissen Zeitraum kontinuierlich anstrengt, kann irgendwann fünf Kilometer laufen. Oder zehn Liegestütze absolvieren. Und wenn man noch ein bisschen länger durchhält, fallen einem die Aktivitäten sogar leicht und bringen Spaß. Diese Rechnung geht – zumindest bei moderaten Zielen – zu hundert Prozent auf. Man fliegt dahin und kann sich kaum noch vorstellen, dass es einmal mühselig war. Bei der Depression bleibt eine derartige Belohnung aus. Niemand bekommt für sein langes Leid, für Schweiß, Tränen und Durchhalten einen Orden. Und ganz paradox: Durch noch mehr Anstrengung wird es nicht besser, sondern schlimmer. Eine gewisse Struktur zu behalten, ist wichtig. Doch wer depressiv ist, kann einfach nicht so viel leisten wie ein gesunder Mensch. Es ist sehr schwer, die eigenen Ansprüche aufzugeben und sich einzugestehen, dass man krank und eingeschränkt ist. Ich musste lernen, mit meinen Kräften hauszuhalten. Lernen, dass ich nicht mehr so belastbar, so fit und so gesund war wie einst.
    Doch warum hatte ich mich die ganze Zeit so unter Druck gesetzt, warum wollte ich so tadellos funktionieren? »Reiß dich einfach mal
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