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Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Titel: Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft
Autoren: Heide Fuhljahn
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brauche, um zu wirken. Mit zwei Wochen würde ich nur die Spitze des Eisbergs angehen.
    Mir bleibt fast das Herz stehen, als ich das vernehme. Doch ich kann die Verzweiflung nicht mehr aushalten, nicht den Druck, die Schlaflosigkeit, die Anspannung, die Trauer. Ich weiß: Wenn der Arzt mich in dieser Klinik nicht aufnimmt, bringe ich mich um. Also streiche ich in Gedanken meinen Job, an dem ich so sehr hänge und den ich im letzten halben Jahr krampfhaft versucht habe zu halten. Im Geiste streiche ich auch meinen geplanten Türkei-Urlaub. Dort wollte ich segeln, seit Jahren habe ich von dieser Reise geträumt. Schließlich willige ich ein, mindestens sechs Wochen in der Klinik zu bleiben. Es ist meine letzte Chance.
    Fünf Tage später ist ein Platz frei. Ich packe meine Sachen für die psychiatrische Station. Hätte ich diesen Schritt nicht getan, ich wäre heute tot.

2 Ein Mantel aus Blei – wie sich eine Depression anfühlt
    M eistens wachte ich früh um sechs Uhr auf – und schon war der Tag gelaufen. Allein das Aufstehen erschien mir unendlich schwer. Denn vor mir lag eine ermüdende Kette voller Anstrengungen. Schon der Gedanke an das, was ich alles tun musste, erschöpfte mich. Zwei Stunden lang drehte ich mich immer wieder im Bett um, denn ich wünschte mir so sehr, nur fünf Minuten tief und fest zu schlafen. Mich erholen zu können. Doch es nützte nichts – ich konnte mich nicht entspannen, um Schlaf zu finden. Wenn ich arbeiten musste, rief Birgit mich meist um acht Uhr an: »Guten Morgen, Heide, komm, wir starten jetzt zusammen in den Tag.« Trotz ihrer freundlichen Begrüßung wäre ich am liebsten liegen geblieben. Aber ich riss mich zusammen. »Okay, ich stehe jetzt auf.« Also angelte ich auf dem Nachttisch nach meiner Brille, schlug die Decke zurück und setzte mich auf die Bettkante – und weinte. Die fünf Meter zu meinem Badezimmer kamen mir vor, als sollte ich einen Berg hochklettern. Doch ich musste mich fertig machen.
    Mit der Zeit entwickelte ich ein Notprogramm. Duschen? Höchstens jeden dritten Tag. Gesicht waschen und eincremen? Nur morgens. Und nur einmal die Woche. Haare waschen? Mit Trockenshampoo, das musste reichen. Schminken? Dann, wenn ich einen wirklich wichtigen Termin hatte. Ich lackierte mir nicht mehr die Nägel, benutzte weder ein Peeling noch eine Beauty-Maske, ließ den Rasierer für die Beinrasur stehen. Die damit einhergehende Verlotterung störte mich sehr, doch die Mühe war einfach zu groß, um es zu ändern.
    Blickte ich auf das vergangene halbe Jahr zurück, wusste ich nicht mehr, wann ich mich das letzte Mal gefreut hatte. Mich leicht fühlte und unbeschwert. Oder normal. Oder war dieser Zustand vielleicht sogar normal? Ich hatte einfach keinen sicheren inneren Maßstab mehr. Ich wusste nur, dass mir nichts mehr Spaß machte. Alles, was ich tat, wurde nur noch danach bewertet, wie sehr es mich erschöpfte. Es war, als hätte ich – nacheinander – eine Grippe, eine Erkältung, eine Magen-Darm-Infektion, schweres Fieber. Und danach ging es wieder von vorn los. Der Kopf schmerzte, ich fühlte mich schwach und niedergeschlagen. War der Kühlschrank leer, ging ich notgedrungen zum Supermarkt bei mir um die Ecke. Der Hinweg durch die drei kleinen Straßen kam mir ewig vor, auf dem Rückweg schnitt mir das Plastikband von dem Sechserpack Mineralwasser schmerzhaft in die Hand. Wieder zu Hause, war ich so ausgelaugt, dass ich mich ins Bett legen musste. Von meinen normalen Verpflichtungen erledigte ich außer dem Einkaufen nur noch das absolut Notwendigste. Im Schneckentempo. Manchmal stand ich minutenlang vor meinem aufklappbaren Wäscheständer. Dort hingen Jeans, meine schwarzen Hosen, Tops und Unterwäsche. Auch wenn ich die schwarze Hose gern getragen hätte, ich konnte sie nicht abhängen. Ich fühlte mich, als würde ich einen Mantel aus Blei tragen. Genauso wenig konnte ich putzen. Oder Musik hören. Nicht im Internet surfen.
    Alles kostete so viel Kraft, und zwar immer. Ich schrieb damals für eine Segelzeitschrift. Wenn ich nicht arbeiten musste, lag ich im Bett. Gemacht habe ich so gut wie nichts, aber mich auch nicht erholt. Manchmal sah ich nur fern, doch selbst das war keine Regeneration, sondern nur Anstrengung. Noch nie habe ich so viel ferngesehen wie in dieser Zeit. Irgendwann fiel mir auf, dass ich jeden Abend in die
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