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Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Titel: Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft
Autoren: Heide Fuhljahn
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dürfen. Meine Rettung. Unter www.leo.org suche ich die passenden Übersetzungen für die Lautschriften. Cod ist also Kabeljau (auf meinem Block steht »kodd«), und der ist, so erfahre ich, dramatisch überfischt.
    Trotz dieser Hilfe habe ich jede Sekunde Angst, das Entscheidende zu verpassen. Ich versuche interessiert auszuschauen, fühle mich in meinem Innern aber wie eine Blenderin. Ich kann nicht sehen, dass ich mit meinen zweiunddreißig Jahren deutlich die Jüngste in der Gruppe bin. Das hätte mich beruhigen können, auch dass ich keine Expertin bin, was das Thema Fischfang betrifft. Doch in meinem Kopf trommelt wie eine Pauke nur die eine Erkenntnis: Zweifellos bist du die Falsche für einen fundierten Artikel über die Fangsituation vor Norwegen! Doch genau den soll ich liefern, und zwar schon in der nächsten Woche.
    Endlich sind die Vorträge beendet, wir haben frei. Die Gruppe zerstreut sich, einige gehen zurück in ihre Kajüte, andere schauen sich die Brücke an oder rauchen draußen an der Reling eine Zigarette. Ich stehe ebenfalls dort, rauche aber nicht, sondern weine um meine verlorene Beziehung. Von einem Elend gerate ich ins nächste. Auch wenn ich es abstellen möchte, es gelingt mir nicht. Die zerstörerischen Bilder tauchen unweigerlich in meinem Kopf auf und lassen sich nicht verdrängen: Philipp hat eine neue Freundin. Es fühlt sich an, als würde mir jemand ein Messer im Bauch umdrehen. Trotzdem funktioniere ich noch irgendwie. Ich ermahne mich: Reiß dich zusammen! Dann wische ich meine Tränen weg und erkunde das Schiff. Es ist fünfundsechzig Meter lang, recht neu, von1990 , und hat mehrere Decks, die alle weiß gestrichen sind. Viele Räume, an deren Türen ich rüttle, sind abgesperrt, dahinter befinden sich die Forschungseinrichtungen: Kühlkammern, Labore, Messbereiche. Hinten am Heck ragen mehrere orangefarbene und gelbe Kräne in den Himmel, mit ihnen werden in den nächsten Tagen Netze ins Wasser gelassen und Fische und Meerestiere gefangen.
    Kurz danach essen wir an Bord zu Abend, es gibt Lachs, wie passend. In meiner Verzweiflung lasse ich mich auf einen Flirt mit einem witzigen englischen Journalisten ein. Doch eigentlich denke ich nur an Philipp und bin noch trauriger als zuvor.
    Am nächsten Morgen läuft die Johan Hjort in den Hafen von Ålesund ein, und ich nehme das als Möglichkeit, um einkaufen zu gehen. Nein, nicht shoppen, es ist kein Spaß damit verbunden, sondern eine Notwendigkeit, denn ich habe nahezu alles zu Hause vergessen. Das ist mir allerdings erst am zweiten Abend aufgefallen, weil ich im Hotel in Bergen nur die Zahnbürste ausgepackt habe. Sogar einen Block und einen Stift muss ich mir besorgen. Ich schäme mich dafür, dass ich offenbar nichts mehr richtig auf die Reihe kriege. Außerdem fehlen mir Haarbänder, Shampoo und ein Deo. Erst jetzt und damit viel zu spät habe ich auch begriffen, dass es am Ende der Reise eine große Pressekonferenz geben wird. Ich habe jedoch ausschließlich Shorts im Marinelook in meinem Rucksack verstaut. Also kaufe ich mir bei H&M ein schwarzes Hemdblusenkleid – und heule in der Umkleidekabine, weil mir nur Größe vierundvierzig passt.
    Während ich mit meinen Einkäufen durch die Gassen von Ålesund gehe, denke ich daran, dass ich im letzten halben Jahr so gut wie gar nicht mehr geschlafen habe – an Bord ist es nicht anders. Das Bett in meiner Kabine ist schmal, das Schiff schaukelt auf den Wellen, und ich komme einfach nicht zur Ruhe. Zu sehr stehe ich unter Druck. Und auch hier, so weit weg von meiner Heimatstadt, denke ich jeden Tag an Selbstmord. Ich stelle mir vor, wie ich eine Überdosis Tabletten nehme. Meine Kräfte sind restlos erschöpft, das spüre ich. Jeden einzelnen Tag durchlebe ich wie in Watte. So gern würde ich Philipp meine Scham über diese Reise anvertrauen, mich von ihm trösten lassen. Doch ich darf ihm nicht einmal eine SMS schicken. Wir sind nicht mehr zusammen, und er will keinen Kontakt mehr.
    Am vierten Tag der Reise bin ich derart am Ende, dass ein weiterer Faden meiner Vernunft reißt. Ich pfeife auf die Absprache, die ich mit Dr. Levi getroffen habe, und nehme das Beruhigungsmittel jetzt so, wie ich es brauche, und nicht, wie ich es nehmen darf. Achtzig Milligramm Oxazepam statt der verordneten fünfundzwanzig Milligramm. Mehr als die dreifache Dosis. Mir
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