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Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI

Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI

Titel: Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
Autoren: Grafit
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    Albrecht lehnte sich an einen Laternenpfahl, zog seinen Schuh aus und schüttete das Wasser heraus. Das würde genügen müssen, denn um zwanzig Uhr musste er in der Oper sein. Er wollte sich die Götterdämmerung von Richard Wagner anschauen. Im Großen Haus des Theater Hagen an der Elberfelder Straße.
    Opern waren seine Leidenschaft. Immer schon. Die Oper war Mord und Totschlag in Reinkultur: Gattenmord, Kindermord, Tyrannenmord oder politischer Mord – zu allem gab es eine Oper.
    Mein Gott, dieser Phaeton-Fahrer eben wäre ja fast seine eigene Götterdämmerung geworden. Und das auch noch kurz vor Heiligabend.
    Auf dem Weihnachtsmarkt zwischen Volkspark und Friedrich-Ebert-Platz war trotz des kalten und regnerischen Wetters einiges los. Jetzt, vier Tage vor dem Fest, tobten die Kinder übermütig zischen Losbuden und Karussells herum, und die meisten Erwachsenen schlürften einen heißen Glühwein. Man stand dicht zusammengedrängt an den Buden und trank trotzig lächelnd gegen das Wetter an.
    Werner Albrecht steuerte die Westfalen-Klause an, eine Bude für Würstchen und Bier, die sein Stammtischfreund Heinz jedes Jahr auf dem Weihnachtsmarkt aufbaute. »Lass mich mal an dein Heizgebläse«, sagte er und deute auf sein nasses Hosenbein. »Ich will noch in die Oper. Götterdämmerung. «
    Sein Freund öffnete ihm lächelnd die Klappe vom Tresen. »Dann grüß mir den Kraic, der singt den Siegfried. Toller Sänger, wahnsinnige Stimme! Der hat hier ab und zu mal ein Bierchen getrunken. Wirkte irgendwie ein bisschen … deprimiert. Tat mir richtig leid.«
    Während seine Hose trocknete, lauschte Werner Albrecht den verschiedenen Dialekten der Gäste an der Bude – er hörte den Zungenschlag des echten Hageners, den trockenen Tonfall des Westfalen und auch den ein oder anderen Sauerländer heraus. Der Weihnachtsmarkt als Treffpunkt der Region – und das bei jedem Wetter! Nicht einmal die Berge, die die Stadt in dem Talkessel wie ein Kranz umschlossen, sah man heute.
    Plötzlich lächelte er. Er erinnerte sich an einen Witz, den ihm ein Sänger aus dem Ensemble des Theaters vor Tagen am Stammtisch erzählt hatte: »Da singt der Alberich im zweiten Aufzug der Götterdämmerung zu seinem Sohn Hagen: Schläfst du, Hagen, mein Sohn? Und immer wenn die Stelle auf der Bühne kommt, dann singen wir hinter der Bühne ganz leise mit: Schläfst du in Hagen, mein Sohn ?«
    Heinz reichte seinem Freund eine Bratwurst und stellte ihm ein frisch gezapftes Pils hin. »Das geht aufs Haus. Als Weihnachtsgeschenk, sozusagen!«
    Fünf Minuten später hatte Werner Albrecht die Wurst gegessen, das Bier getrunken und überpüft, ob seine Hose trocken war. Zufrieden und weihnachtlich gestimmt machte er sich auf den Weg zum Theater. Wie ein kleines Kind freute er sich schon auf den ersten großen Fortissimoeinsatz der Hörner im Orchester und auf die kommenden zwei Stunden des ersten Aktes der Götterdämmerung . » Vom Niblung jüngst vernahm ich die Mär «, summte er. Mein Gott, was für ein grandioses Werk!
    Das Orchester spielte wunderbar. Werner Albrecht saß auf seinem Platz in der zehnten Reihe und genoss die Aufführung. Siegfried hatte für seinen Blutsbruder Gunther die starke Brünnhilde erobert, aber die hatte bei der Hochzeit den Betrug bemerkt und Rache geschworen. Und Hagen und Gunther die einzige Stelle verraten, an der Siegfried verwundbar war. Werner Albrecht beugte sich gespannt vor. Gleich kam die Ermordung Siegfrieds.
    Der stand dem Publikum zugewandt im Vordergrund der Bühne und schaute nach oben, den Vögeln nach. Weiter hinten standen im Halbkreis die Mannen, dazwischen Hagen. Bei dem großen Fortissimo dann stach Hagen wütend seinen Speer von hinten zwischen Siegfrieds Schulterblätter.
    Die Mannen stürzen entsetzt zu Hagen. Was tust du? … Was tatest du ?
    Meineid rächt ich …, singt Hagen und reißt seinen Speer wieder aus Siegfrieds Körper heraus. Siegfried bricht tödlich verwundet auf die Knie. So hatte es Richard Wagner in seiner Partitur geschrieben.
    Werner Albrecht kannte jede Szene der Götterdämmerung in- und auswendig und wartete gebannt darauf, dass Siegfried sich jetzt auf seine Arme stützte und im Sterben noch einmal seine geliebte Brünnhilde sah: … dieses Atems wonniges Wehen! Süßes Vergehen, seliges Grauen: Brünnhild bietet mir – Gruß! Aber nichts dergleichen geschah.
    Siegfried rappelte sich noch einmal hoch und dann sank er hin. Lag nur da. Regungslos. Kein Atmen, keine
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