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Kaleidoscope: Kriminalroman (German Edition)

Kaleidoscope: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Kaleidoscope: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Darryl Wimberley
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Speisewagen. Die morgendliche Mahlzeitwar eine eher demokratische Angelegenheit. Proleten und Pärchen auf Hochzeitsreise nippten gemeinsam in gepflegter, zigarrenrauchschwangerer Atmosphäre an ihrem Orangensaft. Jack fand einen freien Platz hinten im Waggon und war gerade bei der zweiten Tasse Kaffee, als ein Schaffner mit einem Korb voller Zeitungen vorbeikam. Jack erkannte den Schwarzen von seiner Hinreise wieder.
    »Zeitung, Sir?«
    »Danke, nicht jetzt.«
    Jack hatte stets seine Hand auf der gut eingefetteten Tasche in seinem Schoß liegen. Es war kein Handkoffer und auch keine Reisetasche, sondern eine kleine Umhängetasche, die frisch mit Sattelseife eingerieben worden war.
    »Zeitung für Sie, Sir?«
    Der Schaffner wandte sich an einen elegant gekleideten Mann und seine Kumpane.
    »Zeitung?«, fragte der Schaffner erneut.
    »Ja, für mich.«
    Ein Bankier, wie Jack aus zufällig gehörten Gesprächsfetzen erfahren hatte. Ein selbstgefälliger Fettsack mit Weste, schick frisiert und manikürt. Pomadenglanz im Haar. Der Schnurrbart gewachst. Ein Mann, der Befehle erteilte und es gewohnt war, dass sie ausgeführt wurden. Er saß mit seiner Frau, nur halb so alt wie er, und einer Gruppe ähnlich gekleideter Geschäftsleute und ihrer Frauen zusammen, die sich alle krampfhaft bemühten, Kultiviertheit auszustrahlen oder was sie dafür hielten. Ein Millionärsfrühstück.
    Jack fiel auf, dass der Bankier sich bei dem Schwarzen, der ihm die Zeitung reichte, nicht bedankte. Mit einem Knallen schlug er die Zeitung auf.
    »Typisch Malcolm«, zwitscherte seine Frau einer Jüngeren zu. »Selbst beim Frühstück denkt er nur an die Geschäfte.«
    Die andere, ein molliges, junges Ding, nickte und spielte mit ihrer Perlenkette.
    »Ja, albern, nicht wahr? Ich meine, wozu macht man denn jede Menge Geld, wenn man sich nicht die Zeit nimmt …«
    »Malcolm?«
    Eine tiefe Stimme unterbrach das Geplapper der Frauen.
    Jack sah auf und bemerkte, dass der Bankier auf seinem Sitz erstarrt zu sein schien. Seine Augen waren hervorgetreten, Arme und Beine stocksteif.
    »MALCOLM?«
    Als der wohlhabende Mann vornüber mit dem Gesicht in seine Maisgrütze fiel, schreckten seine Begleiter panisch auf. Jack fiel die Zeitung auf dem Boden auf. Eine fett gedruckte Schlagzeile verkündete:
    29. Oktober 1929

Krach an der Wall Street – Sturm auf die Banken
    Das reich verzierte Gittertor, das Zugang zu Oliver Bladehorns Grundstück gewährte, war unbewacht. Jack drückte dagegen. Ächzend bewegten sich die rostigen Scharniere und Jack humpelte auf das Gelände. Nirgends um die Art-déco-Villa patrouillierende Wachleute zu sehen. Kein Krocket und keine Krinolinen auf dem Rasen. Die langen Reihen von Wacholder-, Stechpalmen- und Azaleenhecken waren offenbar lange nicht gestutzt worden. Die Blumenbeete waren von Herbstlaub bedeckt, geradezu darunter begraben. Das angenehme Aroma verrottender Ahornblätter lag in der Luft.
    Jack nahm den asphaltierten Weg rund um die Villa, zwischen den Bäumen hindurch. Der Dachfirst des Schmetterlingshauses war jetzt, da die Ulmen ihr Laub verloren hatten, leicht zu sehen. Es war weit und breit kein Dienstpersonal zu entdecken, aber aus dem Treibhaus erklang das Grammophon. Die Klavierklänge nagten an Jacks Erinnerung. Wo hatte er diese Platte nur schon einmal gehört?
    Es war in Frankreich. Natürlich … Im Lazarett. Er konnte Gilette vor sich sehen, wie sie sachte den Staub von der glänzendenPlatte wischte und die Nadel vorsichtig in eine Rille setzte. War es Mozart …? Mozart, ja. Oder irgend so jemand. Jack nahm die Tasche in die andere Hand, drehte an dem Messingknopf der klapprigen Tür und ging hinein.
    Es war kein Grammophon, sondern ein Radio. Umwirbelt von Millionen bunter Schuppen schaukelte Oliver Bladehorn zu Mozarts Melodie hin und her. Ein wunderschönes Insekt schlug auf seinem kahlen Schädel die Flügel auf, während er dessen Vetter auf ein Brett heftete.
    Irgendetwas verfaulte da drin. Verwesungsgeruch stieg Jack in die Nase.
    »Sie werden unruhig.« Bladehorn wischte ganz gelassen einen Monarchfalter von seinem Arm, so als hätte er Jack schon den ganzen Morgen erwartet. »Zeit für die Wanderung, nehme ich an.«
    »Zeit, die Fenster aufzumachen«, stimmte Jack zu.
    Bladehorns Kopf drehte sich wie ein Geschützturm. Wie bei einer Schleiereule. Sein sabbernder Mund schien sich zu einer Art Lächeln zu verziehen. Das Insekt putzte sich unbemerkt auf seinem Kopf.
    »Du lieber Himmel, Jack!
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