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Kairos (German Edition)

Kairos (German Edition)

Titel: Kairos (German Edition)
Autoren: Christian Gallo
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erhob mich und wünschte ihm eine gute Nacht, auf eine Art, die ihm mein Mitgefühl übermitteln sollte, was er durch seinen Händedruck stumm quittierte. In dieser Nacht allein mit seinem Kummer und seiner Reue, ging er hinüber in
    Das Unbekannte.
    (In das Unbekannte.)
    Genau. Kein Nichts. Nur das Unbekannte. Und
dein
Ende, Nazma Chaudhry?
    (Warum sieht dieser Dampier, der Mann aus der Geschichte, aus wie mein Vater?)
    Ja richtig, dein Vater. Dieser dürre Mann mit dem stechenden Blick. Du hast ihn gesehen, nicht wahr? Du hast es bis heute niemandem erzählt, nicht einmal deinem Corey, aber ich weiß es, ich weiß davon.
    (Was willst du wissen?)
    Du hast ihn gesehen. Das ist dein Geheimnis, deine ganze Last.
    Oh, überrascht? Ich weiß alles von dir. Ich bin die Stimme, die alles weiß. Zum Beispiel, daß du früher ein ungehorsames Mädchen warst, stimmt’s nicht. Ich weiß, daß du nicht auf deine Mutter gehört hast, als sie sagte, du solltest im Haus bleiben. Ich weiß, daß du entgegen aller Vernunft den Ort, an dem dein Vater gestorben ist, aufgesucht hast. Was sagst du jetzt?
    (Er ... war noch ... war noch immer ...)
    Er lag noch immer dort, im Wasser, unter diesem mächtigen Baum. Man hat ihn einfach dort liegen lassen. Du wollest ungedingt jenen Ort sehen, an dem er seinen letzten Atemzug getan hatte, es erschien dir so wichtig, habe ich Recht? Aber dann gelangst du dorthin und siehst ihn, Nazma. Du siehst ihn dort liegen. Tot. So häßlich als Leiche. Der Anblick war dir so schrecklich vertraut und doch auch völlig fremd.
    (Er hat sich nie auf meine Nachricht gemeldet. Weshalb nicht? Was ist ihm dazwischengekommen?)
    Corey? Du, Schätzchen, bist ihm dazwischengekommen, dein Haß, deine Furcht vor allem, was Leben ausmacht – deine unkontrollierte Wut auf Dinge, die zu ändern man nicht befähigt ist.
    Du bist schuld.
    Nazma sieht sich mit Corey schlafen.
    (Mein Vater...)
    Er war dort. Stell es dir vor, ruf es dir noch einmal in Erinnerung. Kein Problem, wenn du es nicht alleine schaffst, ich helfe dir dabei. Ich bin Vieles, auch deine Erinnerungen, deine Urerinnerungen.
    (Nein. Bitte nicht.)
    Und weshalb nicht, Nazma?
    (Es quält mich.)
    Sie fühlt Coreys Körper, fühlt seinen Schwanz in ihr. Sie spürt, wie er sich bewegt, und...
    Das muß es nicht. Das alles ist ein Teil von dir. Der Ort war sehr hell, weißt du noch? Wie von tausend Neonlampen ausgeleuchtet. Der Ort, von dem ich spreche, ist ein Flußufer. Ich spreche von Pakistan, okay? Das matschige, von dichtem Schilfrohr bewachsene Ufer irgendeines brackigen Seitenarms des Indus.
    (Ja. Ja, so war es.)
    Du kamst barfuß dort an. Und dann...
    Der Moschusduft ihres Geschlechts und ... Corey ... Er macht etwas...
    (Ich will das nicht sehen.)
    Viele Traumsequenzen wechseln einander ab, verschwimmen zu einem Potpourri ungereimter Eindrücke und Ideenfolgen, die aber von einem schwachen Band aus Wahrheitsgehalt zusammengehalten werden. Das Wasser ist rosafarben. Ihr Vater sitzt gegen einen im Wasser stehenden Baumstamm angelehnt da, den Kopf zur Seite geneigt, die toten Augen zum Himmel gerichtet...
    (Hör doch auf! Schluß damit!)
    ... den Mund halb geöffnet. Sein Gesicht ist schlaff; seine Augen aber, obwohl mit leerem Blick, auch von einem geheimen Entsetzen erfüllt. Eine Packung billiger Rasierklingen treibt im verfärbten Wasser. Nazma, dein Vater hat...
    (Nein, hat er nicht!)
    Corey und sie, sie haben ... haben...
    ... hat sich die Unterarme vom Ellbogen bis zu den Handwurzeln aufgeschlitzt. Die tiefen, klaffenden Wunden schimmern im Licht der brütenden, pakistanischen Sonne.
    ... einen Fehler gemacht. Und dann sieht Nazma das schlafende Ungeheuer. Es ist ein Kind, aber mit einem monströs großen Kopf und Zähnen wie Stalaktiten. Nazma schreit.
    Und du hast einfach nur dagestanden und ihn beim Ausbluten betrachtet. Und das ist jetzt dein ganzes Problem. Aber du hast noch etwas anderes gesehen, nicht wahr? Etwas Merkwürdiges, Unheimliches.
    (Keine Ahnung, ich...)
    Keine Sorge, ich erinnere mich für dich. Du hast es wirklich vergessen? Das ist nicht schlimm. Menschen vergessen nun einmal. Nicht ihr ewiger Geist, der alle Zeit irgendwo dort draußen herumspuken wird, bis er die letzte Erkenntnis – sagen wir, sein Heiligtum – gefunden hat, sondern die endliche Materie, die ihn umgibt und früh bereits auszufüllen beginnt.
    Ich weiß, was du gesehen hast, Nazma.
    Das Unbekannte.
    Nenne es wie du willst. Von mir aus auch so. Mach deinen
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