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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben
Autoren: Charlotte Lyne
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versprochen hatte, ihr zu sagen, was immer sie betraf, hatte er ihr die Wahrheit wie ein Feigling vorenthalten, aus Furcht, dass sie ihm nicht verzeihen würde. Er hatte sich zu Recht gefürchtet. Sie hätte ihm nicht verziehen. Vyves hatte gesagt: Wenn ich dich anschaue, meine Sternengeliebte, hätte ich an seiner Stelle dasselbe getan.
    Amicia wollte den erschöpften Mann, der neben der Leiche seines Vaters kniete, nicht mehr ansehen. Sie wollte den schier unzähmbaren Wunsch nicht mehr verspüren, zu ihm zu laufen, die Arme um ihn zu schlingen und in sein Ohr zu flüstern: »Es wird wieder gut, mein Liebling. Ich weiß beim besten Willen nicht wie, aber es wird wieder gut.« Es war nicht länger auszuhalten. Als Vyves vorsichtig nach ihrer Hand tastete, ließ sie sich erleichtert gegen ihn fallen. »Halt mich. Ich habe Angst, mir brechen die Beine ein.«
    Vyves zog sie an sich. Ihn anzusehen oder auch nur den Blick zu wenden, vermochte sie dennoch nicht. Stattdessen beobachtete sie, wie der kniende Mann sich schüttelte, um zu sich zu kommen. Als es ihm nicht gleich gelang, schlug er sich kurz mit der Faust vor die Stirn. Mehrmals hatte jemand ihm Wasser angeboten, aber er schien die Männer nicht einmal zu bemerken. Unendlich langsam stand er auf, drehte sich um und kam mit schweren Schritten auf sie zu. Ein schriller Laut entfuhr Amicia, ehe Vyves’ Hand ihr den Mund verschloss.
    Matthew war gebrandmarkt worden, wie man es auf Marktplätzen mit Verbrechern tat. Auf die Stirne, über die geschwungene rechte Braue. Nur waren die Henker, die die Leibesstrafe an Verbrechern vollzogen, darin geschult, während dem seinen offenbar das Eisen verrutscht war. Dass der Buchstabe, den die Narbe bildete, ein »A« hatte sein sollen, erkannte nur, wer es wusste. Amicia wollte weg von hier, wollte sich den Schmerz nicht vorstellen müssen, den er hatte erleiden müssen, als das Eisen sich in sein Fleisch gegraben hatte, und sie wollte nicht an die Qualen denken, die sie ihm in ihren schlaflosen Nächten gewünscht hatte. Sie wollte Vyves sagen, er solle mit ihr flüchten, ehe der Mann sie erreichte, mit ihr fortgehen und nie mehr zurückkommen.
    »Vyves fil Elijah?« In gut drei Schritten Abstand blieb er vor ihnen stehen. Als er Amicias Blick bemerkte, griff er sich grob ins Stirnhaar und zerrte es über die Narben.
    »Der bin ich«, sagte Vyves.
    »Ich habe eine Nachricht für Euch, und ich fürchte, sie ist nicht gut. Leider habe ich lange gebraucht, um Euch zu finden, deshalb ist jetzt Eile geboten. Ihr müsst dieses Land verlassen. Ich habe ein Schiff in Yarmouth, das Euch nach Hastings bringt, wo Eure Familie Euch erwartet. Von dort setzt Ihr über nach Frankreich.«
    »Aber …«, stammelte Vyves und dann noch einmal: »Aber …« Gleich darauf fasste er sich. »Was ist geschehen?«
    »Mein Vater muss herausbekommen haben, dass Ihr Amicia geholfen habt. Er hat Männer zu Eurem Haus geschickt, die es in Brand gesetzt haben. Bitte sorgt Euch nicht. Eure Familie ist wohlauf. Sie waren bei Freunden von mir versteckt, bis sie nach Hastings weiterreisen konnten.«
    Amicia sah Vyves erbleichen, legte ihm den Arm um die Schultern und zog ihn so fest an sich, wie sie konnte. »Wie habt Ihr davon erfahren?«, fragte er, und Amicia bewunderte ihn für seine Haltung.
    »Ich war in Westminster«, antwortete Matthew. »Auf einer geheimen Versammlung anlässlich einer neuen Steuer zur Deckung der Kriegsschulden, die wir demnächst unter den hungernden Bauern einzutreiben haben. Um die bittere Arznei zu versüßen, hat der König beschlossen, sämtliche Juden des Landes zu verweisen und ihren Besitz zu beschlagnahmen. Das Edikt wird im Juli öffentlich verkündet, und was dann hier los ist, möchte ich nicht wissen. Bis November darf es in England keinen Menschen jüdischen Glaubens mehr geben, und wer sich widersetzt, hat sein Leben verwirkt. Das Klügste ist, jetzt zu gehen, solange man eine sichere Passage bekommt. Wenn erst die Seeleute mitbekommen, was vor sich geht, mag manch einer das Geld für die Überfahrt kassieren und seine Passagiere hinterher ersäufen.« Er hielt inne und senkte kurz den Kopf. »Es tut mir leid, Sir. Ich schäme mich für mein Volk.«
    »Und Ihr seid von Westminster nach London gereist, um meine Familie zu warnen?«
    »Ich kann Euch nur bitten, darüber zu schweigen.« Ein flüchtiges, eisiges Lächeln entblößte seine Zähne. »Wenn Ihr es nicht tut, kostet es mich den Hals.«
    »Ich danke Euch«,
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