Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Autoren: Reiner Stach
Vom Netzwerk:
Kafkas Beziehung zum Judentum in Zusammenhang mit seiner Erziehung, seiner Lektüre jüdischer Schriften, seiner Freundschaft mit Brod, seiner ›Weltanschauung‹ oder anhand der leibhaftigen Erfahrung des Antisemitismus darstellen? Was ist Ursache, was ist Wirkung? Die geringste Verlagerung des Schwerpunkts, und das Bild verändert sich grundlegend, wird vielleicht falsch, kippt um. Wo ist die Grenze der erlaubten Vereinfachung, die der Biograph sich leisten darf, um jene Echos und Rückkopplungen nachvollziehen, um sie erzählen zu können? Die Vielzahl der Wechselbeziehungen zwischen den thematischen Waben überschreitet schlechthin die Möglichkeiten der erzählerischen Geometrie. Es ist, als stünde man vor der Aufgabe, ein vierdimensionales Gebilde dadurch vorstellbar zu machen, dass man ein dreidimensionales Abziehbild erstellt, gleichsam den Schatten jenes Objekts. Bekanntermaßen ist diese Aufgabe lösbar, doch jede denkbare Lösung ist erkauft mit einem Verlust an Details und damit wiederum an Anschaulichkeit. Ein Stück Faden und eine Rasierklinge werfen – unter Umständen – den gleichen Schatten.

    Kafka lehrt Bescheidenheit. Wer sich an ihm versucht, muss damit rechnen, zu versagen. Zahllos die einschlägigen sekundären Texte, in denen das Gefälle zwischen den Ausführungen des Autors und den {XXII} eingestreuten Kafka-Zitaten derart steil ist, dass dem Leser heiß und kalt wird. Noch die besten synthetischen Leistungen – man denke an Elias Canettis Großessay DER ANDERE PROZESS – enthalten Passagen, deren sprachliche und sachliche Differenziertheit hinter derjenigen Kafkas deutlich zurückbleibt. Das ist unvermeidlich, und erst recht der Biograph muss sich darüber im Klaren sein, dass er in eine Konkurrenz eintritt, die er nicht gewinnen kann.
    Doch ebenso wenig kann er ihr ausweichen. Vom Biographen eines Klaviervirtuosen wird man nicht verlangen, dass er das absolute Gehör hat, noch vom Biographen eines Abenteurers, dass er die Segelprüfung besteht. Der Biograph eines Philosophen aber sollte denken und der Biograph eines Schriftstellers schreiben können. Das ist trivial, in seinen hermeneutischen Folgen jedoch durchaus einschüchternd. Kafka hat in beispiellos eigensinniger und zugleich perfekter Weise die Sprache zum Medium der Selbstentfaltung gemacht. Dem Biographen aber bleibt gar nichts anderes übrig, als genau dieselben Werkzeuge in die Hand zu nehmen, sich genau desselben Mediums zu bedienen, um von jener Selbstentfaltung zu erzählen.
    Damit allerdings begibt er sich auf einen Platz, der besetzt ist – und zwar dauerhaft. Denn Kafka schläft niemals. Ihm unterlaufen keine Phrasen, keine semantischen Unreinheiten, keine schwachen Metaphern – auch dann nicht, wenn er im Sand liegt und Ansichtskarten schreibt. Seine Sprache ›fließt‹ nicht aus sich selbst, noch tritt sie jemals über die Ufer; sie wird beherrscht, wie ein glühendes Skalpell, das durch Stein dringt. Kafka übersieht nichts, vergisst nichts. Von den Zuständen der Geistesabwesenheit und Langeweile, die er immer wieder beklagt, ist wenig zu spüren, im Gegenteil: Fast schmerzlich berührt diese unablässige geistige Präsenz, denn sie macht ihn unzugänglich. Einer muss wachen. Die andern aber lässt er zurück, einen nach dem anderen. Er findet nicht mehr nach Hause, wird welt- und menschenfremd, und dies auch in einem durchaus profanen, komischen Sinn.
    In seinem Roman DAS WAHRE LEBEN DES SEBASTIAN KNIGHT – der von der Unmöglichkeit der adäquaten Biographie handelt – hat Nabokov dieses Leiden einer gewissermaßen tieferen Schlaflosigkeit aus der Innenperspektive formuliert: »Ein hungriger Mann, der seinen Braten verzehrt, interessiert sich für sein Essen und nicht für die Erinnerung {XXIII} an einen sieben Jahre zurückliegenden Traum von Engeln mit Zylinderhüten; bei mir jedoch standen alle Verschlüsse und Klappen und Türen des Geistes den ganzen Tag über gleichzeitig offen. Bei den meisten Menschen hat das Bewusstsein seine Sonntage – meinem war kein halber Feiertag vergönnt. Dieser ständige Wachzustand war nicht nur an sich, sondern auch in seinen unmittelbaren Folgen äußerst quälend. Jede Bagatelle nahm sich so kompliziert aus, rief eine solche Fülle von Assoziationen hervor, und diese Assoziationen waren so heikel und dunkel, so ungeeignet für jede praktische Verwertung, dass ich mich entweder um die fragliche Sache ganz drückte oder aber sie aus lauter Nervosität verdarb.« Das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher