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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Autoren: Reiner Stach
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ihre Aufgabe gerade darin hat, das scheinbar Singuläre einzubetten in Geschichte: Für sie ist ›Genialität‹ ein methodisches Ärgernis, und als Amateur macht sich kenntlich, wer den Begriff ganz ungeschützt verwendet.
    Doch vor der Literaturwissenschaft kommt die Literatur. Es ist {XV} schlechterdings unvorstellbar, dass ein erfahrener Leser mit entwickeltem Rezeptionsvermögen vor Kafkas Texten niemals die schockhafte Erfahrung des Genialen macht – selbst dann nicht, wenn er diese Texte als humorlos, verstiegen, grausam oder dunkel empfindet. Kafkas Welt ist unwohnlich, und lange dauert es, sich hier einzufinden. Dennoch dringen seine Sätze unter die Haut, geben zu denken, sind nicht mehr abzuschütteln. Zwei Fragen reifen heran, unvermeidlich: ›Was hat das alles zu bedeuten?‹, lautet die eine, ›Wie kommt so etwas zustande?‹ die andere. Und je nachdem, welchem Ruf der Leser folgt, gerät er entweder in den Dschungel der Werkdeutung oder in die Mühsal eines unabschließbaren biographischen Kreuzworträtsels.
    Kafka selbst hat immer wieder das Bild eines inneren Abgrunds evoziert, im Tagebuch wie in Briefen: »Das einzige was ich habe, sind irgendwelche Kräfte, die sich in einer im normalen Zustand gar nicht erkennbaren Tiefe zur Litteratur koncentrieren … « »Vollständige Gleichgültigkeit und Stumpfheit. Ein ausgetrockneter Brunnen, Wasser in unerreichbarer Tiefe und dort ungewiss.« Und ähnlich in zahllosen Variationen. Die Wahrheit kommt nicht von oben, als Eingebung oder Gnade; und sie kommt auch nicht aus den Reichtümern der Welt, aus sinnlicher Erfahrung, Arbeit oder menschlicher Anteilnahme; wahre Literatur kommt einzig aus der Tiefe, und was seine Wurzeln nicht in der Tiefe hat, ist ausgeklügelt, ist bloße »Konstruktion«. Das Bild leuchtet ein, evident ist es zumindest für ihn , für seinen Fall , auch wenn man vielleicht anstelle der von Kafka vielerorts beschworenen »Wahrheit« lieber den vorsichtigeren Begriff der Authentizität setzen würde. Wenn dem aber so ist, wenn das Bild einer schwer zugänglichen inneren Tiefe tatsächlich etwas aussagt über Kafkas bisweilen überwältigende, bisweilen aber auch gänzlich versagende ästhetische Potenz, dann bleibt nichts anderes übrig, als ihm dorthin zu folgen, selbst ein Stück weit hinabzusteigen und nachzusehen.

    »Wieder ein neues Buch über Lessing!«, vermerkte einst Hebbel im Tagebuch. »Und doch dürfte Lessing selbst wieder auferstehen und er würde nichts Neues mehr über sich sagen können.« Das benennt präzis das beklemmende Gefühl des Studienanfängers, der in einer germanistischen Fachbibliothek das Regal ›K‹ besichtigt. Kafka am laufenden Meter. Abgegriffene ›Gesamtdeutungen‹ aus den fünfziger und {XVI} sechziger Jahren, Handbücher und Stellenkommentare, gesammelte Aufsätze, furchteinflößend schwere und dennoch längst überholte Bibliographien, schließlich unabsehbare Kolonnen akademischer Monographien zur Struktur des Fragments X, zum Einfluss des Autors Y oder zum Begriff des Z ›bei Kafka‹. Nicht besser sieht es im Internet aus. Ein amerikanischer Student, der naiv genug wäre, mit Hilfe des Suchbegriffs ›Kafka‹ ein paar grundlegende Informationen einholen zu wollen, hätte die erfreuliche Wahl zwischen mehr als 130 000 englischsprachigen Fundstellen – das sind doppelt so viele wie für ›Humphrey Bogart‹ und noch immer ein paar mehr als für ›Goethe‹. Ja, es erscheint zweifelhaft, ob Kafka, wieder auferstanden, uns noch irgend etwas Überraschendes mitzuteilen hätte.
    Auf den zweiten Blick folgt Ernüchterung. Das meiste ist freihändige Spekulation oder akademische Pflichtübung. Keine noch so unsinnige These, die nicht irgendwo von irgendwem vertreten würde, kein methodisches Räderwerk, das Kafkas Werk nicht schon durchlaufen hätte. Dazwischen Spezialuntersuchungen, die autistischen Spielen gleichen: Einen in Betracht kommenden Adressaten vermag man sich gar nicht vorzustellen. Ein halbes Dutzend klassischer Zitate findet sich in beinahe jeder Arbeit, ansonsten zitieren sie sich ausgiebig gegenseitig. Es scheint ein Betrieb, der sich selbst genügt, eine Art Kultus, zu dem man Zutritt hat oder eben nicht. Wobei auffällt, dass die wenigen Perlen, die es zu entdecken gibt – glänzend geschriebene Essays, erregende Gedankenspiele –, fast durchweg von Nicht spezialisten stammen.
    Enttäuschend auch der schäumende Überfluss des Internet: Lässt man bunte Bildchen,
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