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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Autoren: Reiner Stach
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unerreichbar. Noch als Dreißigjähriger wohnte er bei den Eltern, mit Ausnahme weniger Monate verbrachte er sein Leben in ein und derselben Stadt, umgeben von einem kleinen, beinahe konstanten Freundeskreis. Was er besaß, wurde aufgezehrt von Krankheit und Hyperinflation. Von der ›Welt‹ sah er wenig, und das wenige fast stets in Eile, unter dem Druck restriktiver Urlaubsregelungen. Durchaus sparsam auch seine Versuche, sich Kompensation zu verschaffen: Schwimmen, Rudern, Turnen, Gartenarbeit, Erholung in Sanatorien, Ausflüge aufs Land und die bescheidenen Exzesse Prager Weinstuben. Erschütternd aber vor allem das Missverhältnis zwischen den lebenslangen, verzweifelten Anstrengungen, die Kafka auf sexuelle und erotische Erfüllung verwandte, und dem dürftigen, seltenen Glück, das niemals frei gegeben und niemals frei empfangen wurde.
    Zu diesen Einschränkungen und Verlusten traten die immensen Opfer an Zeit und Energie, die Kafka der Literatur brachte. Den Akt des Schreibens sah er als den eigentlichen Fokus seiner Existenz, Schreiben beruhigte und stabilisierte ihn, gelungenes Schreiben machte ihn glücklich und selbstbewusst. Auch hier aber ist die äußere Bilanz, das Verhältnis von Aufwand und Ertrag beinahe bizarr. Auf jede Manuskriptseite, die er der Überlieferung für wert hielt, kamen zehn, vielleicht zwanzig Seiten, die er vernichtet sehen wollte. Alle literarischen Projekte, die über den Umfang einer Erzählung hinausreichten, scheiterten. Dasselbe gilt für Versuche in anderen literarischen Gattungen: Die Sprache der Lyrik blieb Kafka unzugänglich, der Plan einer Autobiographie blieb unausgeführt, und auch seine wenigen, halbherzigen Experimente auf dem Gebiet der dramatischen Dichtung blieben ohne greifbares Ergebnis. Man stelle sich vor, im Nachlass eines Komponisten fänden sich, neben einigen wenigen vollendeten {XII} Kammermusikwerken, Dutzende abgebrochener Kompositionen, darunter drei unvollendete Symphonien. Ein Gescheiterter, ein Unfähiger? Brod hat lange Jahre versucht, diese in der Geschichte der Weltliteratur beispiellose Situation durch eine tendenziöse Editionsstrategie zu verschleiern. Doch zu verschleiern gibt es heute nichts mehr, die Kritische Ausgabe der Werke liegt vor, und der Eindruck ist unabweislich, dass Kafka als Schriftsteller ein Trümmerfeld hinterlassen hat.

    Das Leben des Einzelnen interessiert, beeindruckt, wirkt umso mehr, je größer der Radius, den er in der Welt aufspannt. Besitz, Leistungen, Karriere, Einfluss, Macht, Geschlechtspartner, leibliche Nachkommen, Bewunderer, Nachfolger, Feinde: Es ist diese gleichsam horizontale Dimension, die soziale Ausdehnung einer Existenz, die sie sichtbar macht und dem Sog der Anonymität entreißt. Auf eine Weise, die auf den ersten Blick naiv scheint, hat sich Kafka lebenslang mit der Frage beschäftigt, wie man einen solchen Radius stabilisiert und beherrscht, wie man sich Raum schafft in der Welt. Er war ein leidenschaftlicher Leser von Biographien, doch der Eindruck, er habe sie wahllos verschlungen, täuscht. Eine österreichische Gräfin des 18. Jahrhunderts, ein Feldherr, ein Philosoph und ein Theaterautor des 19. Jahrhunderts, ein Plantagenbesitzer, ein Polarforscher und eine sozialistische Aktivistin des 20. Jahrhunderts – ihre Welten mögen inkompatibel sein, nicht jedoch die Strategien und Tricks, mit denen sie den einmal erkämpften Wirkungskreis ihrer Existenz verteidigten und vergrößerten, Strategien, aus denen sich vielleicht – so hoffte Kafka – in der Gesamtschau eine Kunst des Lebens herausfiltern ließe.
    Er hat es nicht weit gebracht in dieser Kunst. Kafkas mannigfaches Scheitern ist offensichtlich und unbestreitbar, und die ersten Leser seiner Tagebücher und Briefe verfielen gar dem Eindruck, es müsse sich um ein entsetzlich isoliertes, fragiles, gleichsam immaterielles und in seiner sozialen Realität auf einen Punkt, auf einen Nullradius zurückgeworfenes Wesen gehandelt haben. Hat nicht auch er selbst sich in dieser Weise porträtiert, sprach er nicht gar von einem »ersatzweisen« Leben? Nun ja. Doch man hatte noch nicht gelernt, ihn zu lesen. Ein Geist, ein Insekt, ein Lufthund, ein Affe, ein blinder Maulwurf, ein ewiger Jude – alles wurde ganz wörtlich genommen. Nicht von dieser Welt, das war der Kafka der dreißiger und vierziger Jahre.
    {XIII} Auch heute noch geriete eine Biographie Franz Kafkas, die den Titel EIN LEBEN trüge, unter den Verdacht der (womöglich
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