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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Autoren: Reiner Stach
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Vermögen gezogen sind. Doch es gibt auch eine innere Grenze, die viel schwerer auszumachen ist: die Grenze zur unbeherrschten Identifikation. Wer sie überschreitet, wird nicht etwa mehr, sondern in aller Regel weniger verstehen. Es kann hilfreich sein, sich identifiziert zu haben , und die intellektuelle und emotionale Anstrengung, die es kostet, sich aus einem Zustand der distanzlosen Verehrung wieder freizumachen, ist gerade für den Kafkabiographen nicht die schlechteste Vorübung. Auch gehört die Fähigkeit, sich gleichsam probeweise zu identifizieren, zu den unabdingbaren Voraussetzungen für jeden, der ein fremdes Leben erkundet. Doch gerade diese Nähe einer scheinbar leicht zu erlangenden Befriedigung, die wir uns doch versagen müssen, ist eine beständige Versuchung: eine lockende Essenz, von der wir nur kosten sollten.
    Empathie stillt den Schmerz des Nichtwissens. Das Nichtwissen selbst vermag sie nicht zu tilgen. Es gibt Monate im Leben Kafkas, über die wir keinerlei Dokumente besitzen, in denen es gleichsam Nacht wird über dem Strom der Überlieferung. Welchen Sinn hätte es, mit romanhaften Phantasien diese Abwesenheiten überbrücken oder gar verschleiern zu wollen? Es gibt andererseits Tage, an denen wir sein Leben fast von Stunde zu Stunde rekonstruieren können, und es zählt zu den lustvollen Augenblicken biographischer Arbeit, wenn die Dichte der Überlieferung wenigstens die Umrisse einer szenischen Vergegenwärtigung ermöglicht – die Lust des detektivischen Erfolgs. Doch was heißt das bei einem Menschen, dessen Leben sich in der »Tiefe«, in einer so überwältigenden inneren Intensität erfüllt? Immer wieder verbrachte Kafka halbe Tage im Bett, auf irgendeinem Sofa, träge, unzugänglich, tagträumend – er hat es oft genug beklagt, so oft, dass man darüber Buch führen könnte. Doch was wissen wir darüber? Wir wissen, dass etliches von dem, was dort geträumt wurde, später einigen Millionen Menschen den Atem nahm.
    Selbst der methodisch gewiefteste Biograph kommt über das Bild {XXV} eines Bildes nicht hinaus: die Stimmung, die Farbe des Augenblicks, die Assoziationen, die latenten Ängste und Lüste, die ihn erfüllen, Mimik und Gestik, Stimmen, Geräusche, Gerüche … alles könnte ein wenig anders gewesen sein, als wir glauben, es uns vorstellen zu müssen. Unendlich facettenreicher war es ohnehin: Selbst die präziseste, mit Wissen und Empathie bewaffnete Einbildungskraft, ja die perfekte innere Verfilmung des historischen Materials bleibt schattenhaft, gemessen daran, wie es wirklich war. Den Schmerz des Nichtwissens, das fortschreitende Verblassen aller Erinnerung, das unwiderrufliche Vergangensein des Vergangenen vermag keine Imagination aufzuheben, auch die mächtigste nicht. Alles, was sie kann, ist: Evidenz zu erzeugen, die Konturen zu schärfen, die Auflösung des Bildes zu erhöhen. Alles, was sie sagen kann, ist: So dürfte, könnte, so müsste es gewesen sein.

    Die vorliegende Biographie Franz Kafkas verzichtet darauf, die leeren Umrisse auszumalen: Alle Einzelheiten, auch unmittelbar anschauliche Vorgänge, sind belegt; erfunden ist nichts. Zusammenhänge zwischen Ereignissen, auch Datierungen, die sich mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit, jedoch auf nur indirekte Weise erschließen lassen, sind in einigen Fällen den belegbaren Fakten gleichgestellt: und zwar immer dann, wenn ein Verzicht zu einer unverhältnismäßigen Verengung der hermeneutischen Perspektive geführt hätte. Unzuverlässige Quellen sind nach Möglichkeit als solche kenntlich gemacht. Was sich auf der Ebene des Empirischen aus Kafkas Tagebüchern und Briefen unmittelbar entnehmen lässt, ist nicht in jedem Detail gesondert nachgewiesen – andernfalls hätte die Zahl der Fußnoten jedes akzeptable Maß gesprengt.
    Szenische Vergegenwärtigung, situative Entfaltung und historische Lokalisierung von Kafkas Leben – all dies benötigt Raum und Zeit. Es ist in einem einzelnen Band von zumutbarem Umfang schlechterdings nicht zu leisten. Die Entscheidung, im Jahr 1910 die Blende zu öffnen, war dabei von der besonderen Quellenlage vorgegeben: Es ist das Jahr, in dem die überlieferten Tagebücher beginnen. Die folgende Zeitspanne bis in die ersten Monate des Weltkriegs ist der am besten dokumentierte Lebensabschnitt, und es ist zweifellos auch der wichtigste, weil hier in dichter Folge alle Entscheidungen fallen, die über {XXVI} das verbleibende Jahrzehnt Kafkas Existenz definieren und
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