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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Autoren: Reiner Stach
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Ein wenig Blausäure, für den Menschen tödlich, ist auch darunter. Dass der Kern des Kometen schwarz ist, schwärzer als Kohle, weiß man noch nicht.
    Die Fachleute winken ab. Halley wird, wie stets, die Erde verfehlen, diesmal um mehr als zwanzig Millionen Kilometer. Nur der Schweif des Kometen wird die Atmosphäre streifen, Gas und ein wenig Staub in unendlicher Verdünnung. Gefährlicher wäre ein Spinnwebfaden für einen laufenden Elefanten, spöttelt ein Berliner Astronom, um den immer gleichen sensationsheischenden Fragen ein Ende zu machen. Es hilft nichts. Wer an den Weltuntergang glauben will, hält sich an die Blausäure.
    Am unbelehrbarsten ist die Hysterie in den Vereinigten Staaten, wo {4} gewiefte Propheten leichtes Spiel haben, ihrer Schar den letzten Cent aus der Tasche zu ziehen. Das aufgeklärte Europa ist gespalten. Während die Kometenfurcht in randständigen, ländlichen Gebieten die Menschen verdüstert und einige gar zu Verzweiflungstaten treibt, reagiert die Unterhaltungsmaschinerie der Metropolen schon ironisch. Der Komet ist ein event , der Weltuntergang eine Gelegenheit zum Feiern, die so bald nicht wiederkehren wird. In Paris bleiben Restaurants bis zum Morgengrauen geöffnet, Menschentrauben schieben sich von Bar zu Bar, es herrscht Feststimmung. Auch in Wien, wo ein leichtes Erdbeben für zusätzliche Erregung sorgt, sind Tausende unterwegs; auf dem Kahlenberg, dem Logenplatz über der Stadt, kampieren seit Tagen ganze Familien.
    Ruhiger geht es in den Provinzstädten zu, hier regiert die Neugierde. Man feiert nicht, man exaltiert sich nicht, aber verpassen will man auch nichts. So zum Beispiel in Prag, wo unter den nervösen Blicken der Polizei die Karlsbrücke zum Treffpunkt der Flaneure wird, bis lange nach Mitternacht. Der Tag war heiß, die laue Nacht weckt die Lebensgeister. Wer freie Sicht auf den nächtlichen Himmel will, schlendert hinauf zu den höher gelegenen Stadtteilen, zum Rieger-Park, aufs Belvedere-Plateau, auf den Laurenziberg. Einige hundert Menschen gehen hier vorsichtig umher, viele mit Operngläsern, und das Dunkel ist erfüllt von gedämpften Gesprächen.
    In einer dieser Gruppen wird besonders angeregt geplaudert, denn Literaten sind es, die hier beisammen sind: ein gewisser Franz Blei aus München, knapp vierzig Jahre alt, seit wenigen Stunden erst zu Besuch in Prag, begleitet von seiner Frau Maria, einer gut verdienenden Zahnärztin, und dem gemeinsamen Sohn; daneben der 26-jährige Max Brod, Postbeamter und Schriftsteller, der heute einen erotisch besonders desolaten Tag hatte und den nach Aufmunterung verlangt; seine ebenfalls noch unverheiratete Schwester Sophie; und schließlich, schmal, sehnig, ein Jahr älter als Brod und einen Kopf größer als alle anderen, der Versicherungsbeamte Franz Kafka, auch er ein Dichter, der auf den fünfzehn Seiten, die er bisher veröffentlicht hat, das Talent einer künftigen Lokalgröße durchaus erahnen lässt.
    Es sind wohl eher die Frauen, die sich von der Erscheinung des Kometen etwas erwarten; die Männer haben anderes im Sinn, und keiner von ihnen wird den besonderen Anlass dieses Spaziergangs noch einer Erwähnung wert finden. Nicht der Weltuntergang, sondern {5} literarische ›Interessen‹ sind es, die sie zusammenführen, jene eigentümliche Teilhabe an einer schwebenden, geisterhaften, aus Wörtern errichteten Gegenwelt von zartester Konstitution, in der nichtsdestoweniger die irdischsten Zänkereien, Hahnenkämpfe und Gruppenzwänge an der Tagesordnung sind. Wer in welcher Zeitschrift gegen wen polemisiert, wer in welcher Redaktion Unterschlupf gefunden hat, wem die Literaturpreise nur so nachgeworfen werden (warum gerade der ?) und welch unverschämte Verträge man sich von diesem oder jenem Verleger gefallen lassen muss – das alles macht das soziale Mark der ›Literatur‹ aus, jenes empfindlichen Organismus, der in sich zusammenstürzte, würden nicht immer wieder Einzelne sich finden, die den Literatur betrieb mit der gleichen Ausdauer in Gang halten wie Börsianer ihre wimmelnden Geschäfte.
    Dieser Betrieb ist zugleich die Grundlage der Verständigung, wo immer Literaten aufeinander treffen. Nicht ›Strömungen‹ sind es, zwischen denen man sich gegenseitig ortet, sondern Verlage, Zeitschriften, Cliquen und peer groups . Wenn zwei, die man gestern noch am selben Kaffeehaustisch sah, sich heute wechselseitig und öffentlich für drittrangige Schreiberlinge erklären, so ist das ein Ereignis, das
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