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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Autoren: Reiner Stach
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Kafkas jüngste Schwester Ottilie, genannt Ottla, fast ebenso früh aus dem Bett finden. Denn ihre Aufgabe war es seit Jahren, allmorgendlich, nach hastigem Frühstück, mit einem Schlüsselbund in die Zeltnergasse zu eilen – nahe dem Altstädter Ring, das war beinahe ein Kilometer – und das dort ansässige ›Galanteriewaren-Geschäft Hermann Kafka‹ aufzusperren, vor dessen Eingang sich bereits um 7.15 Uhr das Personal einfand.
    War Ottla aus dem Haus, wurde es auch für ihren Bruder hohe Zeit. Sein kleines, ungeheiztes Zimmer lag unglücklich zwischen dem Schlafzimmer der Eltern und der Wohnstube, und während auf der einen Seite das Geschirr klapperte, hörte er auf der anderen Seite das Flüstern der Mutter und das weniger rücksichtsvolle, laute Gähnen des Vaters, der sich mächtig im knarrenden Ehebett drehte. Dazwischen die Tür zum Flur, die mit Scheiben aus mattem, ornamentiertem Glas versehen war: Machte draußen jemand das Licht an, wurde es auch drinnen hell.
    Eng und gedrängt ging es zu bei den Kafkas: Die sonore Stimme des Vaters war allgegenwärtig, Besucher wurden stets von der ganzen Familie empfangen, und ein Gespräch unter vier Augen bedurfte der Verabredung, wollte man sich nicht mit verstohlenen Zeichen begnügen. Dennoch ist Kafkas Aufzeichnungen nicht zu entnehmen, dass irgend jemand unter diesem Mangel an Intimität gelitten hätte – außer {10} ihm selbst natürlich, den am Sonntagmorgen (aber darüber konnte man nicht schreiben) stets eine leichte Übelkeit anflog, wenn er das zerwühlte Bettzeug der Eltern erblickte, nur wenige Schritte von seinem eigenen. Dabei durfte er sich nicht einmal beschweren: Immerhin war er das einzige Familienmitglied, das über ein eigenes Zimmer verfügte, während sich seine drei Schwestern Elli, Valli und Ottla jahrelang mit einem einzigen ›Mädchenzimmer‹ hatten abfinden müssen. Elli heiratete im Herbst 1910 und verließ die Wohnung. Doch noch immer teilte Kafka seinen Lebensraum mit fünf Erwachsenen (inklusive des Dienstmädchens), und es war nicht zuletzt die unwirtliche Stimmung des morgendlichen Aufbruchs, die ihn jetzt immer häufiger daran denken ließ, diesen Zustand zu beenden.
    Es war wenig verlockend, den vergehenden Schlaf noch länger auszukosten, und während nebenan die notorischen Kanarienvögel (die nach ihrem Ableben immer wieder durch neue ersetzt wurden) in das allgemeine Geräusch einstimmten, eilte Kafka ins Bad, um sich mit peinlicher Sorgfalt zu waschen, zu kämmen und zu rasieren. Das eigene Bad war ein Luxus, den er besonders schätzte, und es war gewiss einer der wichtigsten Gründe gewesen, gerade diese Wohnung zu wählen: Es gab noch genug Behausungen in Prag – die Kafkas wussten es aus eigener Erfahrung –, in die das Wasser herbeigeschleppt werden musste, und das umständliche Hantieren mit Eimern und Waschschüsseln war nicht nur anstrengend, sondern auch langwierig. Mit den hygienischen Ansprüchen, die Kafka seit langem verfocht, war dies kaum zu vereinbaren – es sei denn, man ließ den Tag noch um einiges früher beginnen.
    Auch das funktionell eingerichtete Badezimmer änderte freilich nichts daran, dass Kafkas Morgentoilette eine langwierige Prozedur war. Nur selten fand er die Zeit, sich länger als unbedingt notwendig am Frühstückstisch aufzuhalten, wo ihm Cakes, Milch und Kompott serviert wurden. Dienstbeginn für die Beamten der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt war acht Uhr morgens, und der Weg dorthin war fast doppelt so weit wie der ins elterliche Geschäft. Kafka packte ein mit nichts belegtes Brötchen ein, und ohne auf den Lift zu warten – das dauerte viel zu lange – hastete er die vier Stockwerke hinab, immer mehrere Stufen auf einmal nehmend, eilte mit aufsehenerregend langen Schritten durch die Gassen der Prager Altstadt, grüßte endlich im Flug und als einer der Letzten den Pförtner der Anstalt und hastete {11} die Treppen hinauf zur ›Betriebsabteilung‹, wiederum vier Stockwerke hoch. » … so traf es sich oftmals«, erinnerte sich einer von Kafkas Kollegen, »dass ich ihn in rasendem Tempo ins Büro schießen sah.« [3]   Man konnte nach Kafka die Uhr stellen: auf Viertel nach acht.

    Es sei, konstatierte er Jahre später, die »unmittelbare Nähe des Erwerbslebens«, die seine literarische Produktivität zuverlässig zum Stillstand bringe. [4]   Hätten seine Eltern diese Tagebuchnotiz je zu Gesicht bekommen, sie hätten sich ihren Sinn wohl erst mühsam
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