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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Autoren: Reiner Stach
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brauchen auch keine Kräftigung, denn, wenn sie wahrhaftig bleiben wollen, können sie nur von sich selbst zehren, so daß man ihnen nicht helfen kann, ohne ihnen vorher zu schaden.«
    Mit anderen Worten: Was selbst leuchtet, braucht keine Beleuchtung. Eine robuste These für einen Autor, der mit bloßem Auge noch lange nicht auszumachen war.

    Die Nacht bleibt mild, es ist windstill. Doch es hängen Wolken über der Stadt, und Enttäuschung kommt auf unter denen, die das Spektakel suchen. Schon gegen Mitternacht sind die ersten Gruppen auf dem Weg nach Hause. Dann klart es plötzlich auf, um ein Uhr zeigt sich ein sternenübersäter Himmel. Die geblieben sind, starren angestrengt nach oben. Vom Kometen keine Spur: keine Sternschnuppen, kein Aufglühen, keine Feuerbälle, kein Weltuntergang. Nichts. Zwei Stunden später schon beginnt es zu dämmern, der Himmel zeigt sich prächtig stahlblau. Um 4.10 Uhr geht die Sonne auf. In diesem Augenblick steht der Halleysche Komet, von Prag aus gesehen, genau vor der glühenden Scheibe: unsichtbar. Der schwarze Stern geht unter in einer Kaskade von Licht.
    Die Literaten Franz Blei, Max Brod und Franz Kafka bemerken davon nichts mehr, sie schlafen. In wenigen Stunden werden sie alle wieder an ihren Schreibtischen sitzen, vor ihren Korrespondenzen, Tagebüchern, Zeitungsausschnitten, Gedichten und Versicherungsakten. Noch einmal davongekommen.

{8} Bei den Kafkas
Ertragen, um ertragen zu werden, ist das Hauptprinzip jeder Gemeinschaft.
Franz Grillparzer, TAGEBUCH, 1831
»Ich sitze in meinem Zimmer im Hauptquartier des Lärms der ganzen Wohnung. Alle Türen höre ich schlagen, durch ihren Lärm bleiben mir nur die Schritte der zwischen ihnen Laufenden erspart, noch das Zuklappen der Herdtüre in der Küche höre ich. Der Vater durchbricht die Türen meines Zimmers und zieht im nachschleppenden Schlafrock durch, aus dem Ofen im Nebenzimmer wird die Asche gekratzt, Valli fragt, durch das Vorzimmer Wort für Wort rufend, ob des Vaters Hut schon geputzt ist, ein Zischen, das mir befreundet sein will, erhebt noch das Geschrei einer antwortenden Stimme. Die Wohnungstüre wird aufgeklinkt und lärmt, wie aus katarrhalischem Hals, öffnet sich dann weiterhin mit dem Singen einer Frauenstimme und schließt sich endlich mit einem dumpfen, männlichen Ruck, der sich am rücksichtslosesten anhört. Der Vater ist weg, jetzt beginnt der zartere, zerstreutere, hoffnungslosere Lärm, von den Stimmen der zwei Kanarienvögel angeführt. Schon früher dachte ich daran, bei den Kanarienvögeln fällt es mir von neuem ein, ob ich nicht die Türe bis zu einer kleinen Spalte öffnen, schlangengleich ins Nebenzimmer kriechen und so auf dem Boden meine Schwestern und ihr Fräulein um Ruhe bitten sollte.«
    GROSSER LÄRM betitelt Kafka dieses Prosastück, das er am 5.November 1911 im Tagebuch notiert und ein knappes Jahr später – da sich an den geschilderten Zuständen nicht das mindeste gebessert hat – in einer Prager Literaturzeitschrift abdrucken lässt: zur »öffentlichen Züchtigung meiner Familie«. [2]   Allerdings ist zweifelhaft, ob Hermann Kafka die Spur, die sein schleppender Schlafrock in der deutschen Literatur hinterließ, je mit eigenen Augen gesehen hat. Der Vater, obgleich ein stämmiger Mann und noch keine sechzig Jahre alt, durfte nicht ›aufgeregt‹ werden, das war Gesetz; sein Blutdruck war nicht in Ordnung, der Atem ging schwer, sein Herz machte ihm zu schaffen, {9} und für Humor, der auf seine Kosten ging, hatte er wenig Sinn. Die drei Schwestern hingegen empfingen ihre Belegexemplare gewiss kichernd: »Valli«, da stand es schwarz auf weiß; nicht einmal den Namen seiner mittleren Schwester hatte Franz unkenntlich gemacht.
    Der Text war an einem Sonntag entstanden, und die wenigen Freunde, die von Kafkas privaten Verhältnissen wussten, erkannten wohl mit einem Blick den typischen Sonntags lärm. Denn jeder andere Morgen, der im vierten Stock des Prager Mietshauses Niklasstraße 36 anbrach, stand ganz unter dem Diktat des Berufslebens und ließ niemandem die Muße, still am Tisch zu sitzen und ein Protokoll der akustischen Verhältnisse anzufertigen.
    Gewöhnlich gegen sechs Uhr früh begann der Alltag der Kafkas: Entfernen der Asche aus dem Küchenherd, Vorbereiten des Frühstücks, Einheizen im Wohnzimmer, Bereitstellen warmen Wassers zum Waschen – alles lästige und geräuschvolle Handarbeit, für die natürlich ein Dienstmädchen zuständig war. Dennoch musste
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