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Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi

Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi

Titel: Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi
Autoren: Arnaldur Indriðason
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Hinterbliebenen waren immer fassungslos, Fragen über Fragen, Nichtwahrhabenwollen. Und in ihren Stimmen schwang Entsetzen mit: Weswegen? Hätte mir etwas auffallen müssen? Hätte ich etwas tun können?
    Der Ehemann begleitete Erlendur hinaus.
    »Soweit ich weiß, hat sie vor einiger Zeit ihre Mutter verloren.«
    »Ja, das stimmt.«
    »Hat ihr Tod María sehr mitgenommen?«
    »Es war ein furchtbarer Schicksalsschlag für sie«, erklärte der Mann. »Trotzdem ist es unbegreiflich. Auch wenn sie in letzter Zeit etwas deprimiert wirkte, ist das überhaupt nicht zu verstehen.«
    »Natürlich«, sagte Erlendur.
    »Ihr kennt euch selbstverständlich mit solchen Selbstmordfällen aus, denke ich«, sagte Baldvin.
    »So etwas kommt leider immer wieder vor«, entgegnete Erlendur.
    »War sie … Hat sie gelitten?«
    »Nein«, sagte Erlendur bestimmt. »Das hat sie nicht.«
    »Ich bin Arzt«, sagte Baldvin. »Du brauchst mir nichts vorzulügen.«
    »Das tue ich auch nicht«, sagte Erlendur.
    »Sie war schon seit längerer Zeit niedergeschlagen«, erklärte Baldvin, »aber sie hat nicht versucht, etwas dagegen zu unternehmen. Vielleicht hätte sie das besser getan. Vielleicht hätte ich aufmerksamer sein müssen für das, was sie durchgemacht hat. Das Verhältnis zwischen ihrer Mutter und ihr war sehr eng, und sie hat sich schwer damit getan, ihren Tod zu akzeptieren. Leonóra war nur fünfundsechzig, sie starb im besten Alter. Krebs. María hat sie bis zum Schluss gepflegt, und ich bin mir nicht sicher, ob sie sich nach ihrem Tod wirklich wieder gefangen hat. Sie war Leonóras einziges Kind.«
    »Man kann sich vorstellen, dass das schwer auf einem lastet.«
    »Es ist vielleicht nicht ganz einfach, sich in ihre Lage hineinzuversetzen«, sagte Baldvin.
    »Ja, natürlich«, gab Erlendur zur Antwort. »Und ihr Vater?«
    »Der ist tot.«
    »War sie religiös?«, fragte Erlendur und blickte auf eine Jesusfigur auf der Kommode im Eingang. Daneben lag eine Bibel.
    »Ja, das war sie«, antwortete der Mann. »Sie ging zur Kirche. Sie war viel religiöser als ich. Und das hat mit den Jahren zugenommen.«
    »Du hast es also nicht so mit der Religion?«
    »Nein, das kann ich nicht sagen.« Baldvin stöhnte schwer. »Das ist … Das ist alles so unwirklich. Du musst entschuldigen, ich …«
    »Entschuldige bitte, ich höre jetzt auf«, sagte Erlendur.
    »Ich fahre dann mit dem Pastor zum Barónsstígur.«
    »Gut«, sagte Erlendur. »Der Gerichtsmediziner muss sie sich ansehen. Das ist in einem Fall wie diesem üblich.«
    »Ich verstehe«, sagte Baldvin.
    Kurz darauf hatten alle das Haus verlassen. Erlendur ließ Baldvin und den Pastor vorfahren. Als er aus der Einfahrt bog, warf er einen Blick auf das Haus und hatte das Gefühl, als bewegten sich die Gardinen hinter dem Wohnzimmerfenster. Er trat auf die Bremse und blickte lange in den Rückspiegel. Als er jedoch keine weitere Bewegung hinter dem Fenster bemerkte, kam er zu dem Schluss, dass er sich getäuscht haben musste. Er nahm den Fuß von der Bremse und fuhr los.

 
    Die ersten Wochen und Monate nach Leonóras Tod litt María unter schweren Depressionen. Sie weigerte sich, Besuch zu empfangen, und ging nicht ans Telefon, wenn es klingelte. Baldvin nahm sich zwei Wochen Urlaub, aber je mehr er für sie tun wollte, desto hartnäckiger bestand sie darauf, in Ruhe gelassen zu werden. Baldvin besorgte ihr Medikamente gegen Schwermut und Depression, die sie aber nicht nahm. Er kannte einen Psychiater, der bereit war, mit ihr einen Termin zu vereinbaren, aber das wollte sie nicht. Sie behauptete, sie müsse ihre Trauer selbst bewältigen. Es würde Zeit brauchen, und er müsse Geduld haben. Sie hätte das schon einmal durchgemacht und würde auch jetzt wieder damit fertig werden.
    Sie kannte die Furcht, die Niedergeschlagenheit und die Appetitlosigkeit, die Gewichtsverlust nach sich zog, und dieses Gefühl der geistigen Lähmung, das sie kraftlos machte und das Interesse an allem verlieren ließ, was außerhalb der abgekapselten Innenwelt war, die sie sich in ihrer Trauer geschaffen hatte. Niemand hatte Zutritt zu dieser Welt. Sie hatte nach dem Tod ihres Vaters Ähnliches durchgemacht, doch damals war ihre Mutter ihr eine überaus große Stütze gewesen. In den ersten Jahren nach seinem Tod träumte María ständig von ihm, und viele der Träume verwandelten sich in Albträume, die nicht von ihr weichen wollten. Sie litt unter Halluzinationen. Er erschien ihr so deutlich, dass sie
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