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Juli, Die Viererkette

Juli, Die Viererkette

Titel: Juli, Die Viererkette
Autoren: Joachim Masannek
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hätte ich daran gedacht, die Steppe bei Dunkelheit zu betreten.
    Wieder schlugen mir die Brennnesseln ins Gesicht, und ich dachte an die Ratten, die hier schon tagsüber ihr Unwesen trieben. Wie viele von diesen Biestern gab es wohl in der Nacht?
    Trotzdem marschierte ich weiter. Disteln zerkratzten meine Beine, doch ich dachte an Kreuzotterzähne. Glasscherben splitterten unter den Sohlen, und ich fuhr erschrocken zusammen, nur um rote Laseraugen zu sehen. Die huschten an meinen Füßen vorbei und wurden von nackten Schwänzen gejagt. Plötzlich schien der Boden um mich herum von Ratten zu wimmeln, und die gingen, das könnt ihr mir glauben, auf Katzenjagd.
    Spätestens jetzt begann ich zu rennen. Vielleicht rannte ich vorher auch schon. Ich kann mich nicht mehr erinnern. Auf jeden Fall rannte und rannte ich, bis ich den Platz zwischen den Graffiti-Burgen erreichte.
    Doch wie schwachsinnig war es von mir zu glauben, dass ich an diesem Ort in Sicherheit war. Schon bei Tageslicht hatte sich mein Herz aus nackter Angst in meiner Hose versteckt, doch jetzt war keine Hose der Welt dafür noch groß genug. Über mir und um mich herum ragten die drei finsteren Türme in den Sternenhimmel empor, und dazwischen duckten sich die Autos auf den Boden, als wären sie die großen Brüder der Biester, vor denen ich gerade davongerannt war: die R.V.A.G.’s – die „Ratten von außergewöhnlicher Größe“.
    Kreuzkümmel und Hühnerkacke! Was machte ich eigentlich hier? Warum wünschte ich dem Dicken Michi nicht die Pest an den Hals und suchte dann ganz schnell und klammheimlich wieder das Weite? Nun, der Gedanke war genial! Aber wie wünscht man einem Kerl wie dem Dicken Michi die Pest an den Hals, wenn dieser plötzlich vor einem steht? Mit einer Taschenlampe in seiner Hand, die einem das Halogenscheinwerferlicht direkt in die vor Schreck geweiteten Augen bläst. Wenn man fast blind vor Schreck ist und das Einzige, was man von der Welt um sich herum noch erkennt, die Schatten der Schmeißfliegen sind, die den Dicken Michi umschwärmen: die Schatten von Fettauge, Mähdrescher, Dampfwalze und die Schatten von Krake, Sense und Kong.
    „Kanalratten-Schweinefurz!“, raunte und staunte der Dicke Michi. „Das Zwerglein hat sich doch tatsächlich getraut. Dafür verdient es ’ne Tapferkeitsmedaille, findet ihr nicht?“
    Der Dicke Michi hielt sich den Bauch, so amüsierte er sich, und ich wurde fuchsteufelswild. Diese verflixten Bastarde hatten mich reingelegt. Ich hätte gar nicht herkommen müssen. All die Sorgen, das schlechte Gewissen und die Ängste, mit denen ich mich eine ganze Nacht und einen ganzen Tag herumgeschlagen hatte, ja, selbst die Liebeserklärung an Joschka mit all diesen ekligen Küssen, das alles war überflüssig gewesen. So überflüssig wie ... wie ... wie eine Warze am Hintern. Ja, höchstens, wenn überhaupt.
    Aber jetzt wuchs diese Warze. Sie wurde größer und größer und verwandelte sich, sozusagen als Krönung, in den Dicken Michi.
    „Nun denn, dann zeig doch mal, was du mitgebracht hast!“, grinste er, packte mich, wirbelte mich um 180 Grad durch die Luft, hielt mich an den Füßen und schüttelte mich so lange mit dem Kopf nach unten, bis alle 32 Euro und 65 Cent aus meinen Taschen gefallen waren.

    „Holterdipopolter! Glitzer und Blink! Das ist ja ein richtiger Schatz!“, staunte er und ließ mich gedankenlos wie einen leeren Sack fallen.
    „Krake! Heb das da auf!“, blaffte er und meinte natürlich nicht mich. Mich gab es schon gar nicht mehr, und ihr wisst nicht, wie begeistert ich darüber war. Äußerlich rieb ich mir nur die Stirn, mit der ich auf dem Boden aufgeschlagen war, doch innerlich schlug ich dreißig Kreuze. Ich hatte es doch tatsächlich geschafft. Die Gefahr des Verrats an meinen eigenen Freunden hatte sich in Luft aufgelöst. Die Dumpfbacken hatten genug Geld gekriegt.
    „Los! Und bewegt eure Hintern!“, befahl der Dicke Michi. „Das ist genug für einen richtigen „Deal“! Mein Cousin hat gestern einen Supermarktlaster äußerst billig erstanden. Wenn ihr wisst, was das heißt!“
    Die anderen johlten, und während Krake mein Geld wie einen Skalp in der Hand herumschwenkte, stapften sie auf und davon. Ich atmete auf, und für einen Augenblick hielt ich die drei Graffiti-Burgen für den sichersten Ort der Welt. Da kehrte der Dicke Michi wieder zurück.
    „Dich hätte ich doch beinah vergessen!“, säuselte er. „Das tut mir aufrichtig leid. Aber du bringst uns bis
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