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Judastöchter

Titel: Judastöchter
Autoren: Markus Heitz
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wertvoller, als ich zuerst angenommen hatte. Heute ist Ihr Glückstag.«
    Ich weiß gar nicht, ob ich so viel Glück fassen kann.
Wilsons Herz hatte sich immer noch nicht beruhigt. Er war hin- und hergerissen: angreifen oder schauen, was der Besuch wollte. »Ich bin gespannt auf Ihre Erklärung, Mister …?«
    »Geben Sie mir irgendeinen Namen, den Sie mögen, Mister Wilson, aber bitte nicht Smith. Das wäre zu viel Klischee.« Noch immer flüsterte die Person. »Lassen Sie den Assamtee bitte vier Minuten ziehen. Ich bevorzuge braunen Zucker, und die Milch müssen Sie nicht eigens für mich vorwärmen.«
    Wer immer das ist, er hat einen Hauch von Stil.
Wilson entschied herauszufinden, wer in sein Haus eingebrochen war. Die Ruhe und Selbstsicherheit des Gasts fand er beeindruckend, und er ging tatsächlich in die Küche, um eine Kanne Tee zuzubereiten. Je mehr Zeit man ihm gab, desto besser.
Wo ist das Arsen, wenn man es mal braucht? Ich habe nicht mal Pflanzendünger, um ihn dem Besucher in den Tee zu kippen.
Die Handgriffe vollführte er, ohne zu denken. Butlerautomatismus. Als er fertig war, nutzte Wilson die Gelegenheit, sich ein großes Küchenmesser unter den Gürtel zu stecken, wenn er schon nicht an seine Pistolen gelangte.
    Nach knappen zehn Minuten kehrte er mit einem beladenen Tablett ins halbdunkle Kaminzimmer zurück, baute Kanne, Tassen, Milch, Zucker und die Löffel auf dem Tisch neben dem Kamin auf, goss zuerst sich, dann seinem Gast ein, der immer noch vor dem Laptop saß und las. »Wie viel Zucker, Sir oder Madam?«
    »Zwei gestrichene Löffel, bitte.« Die behandschuhte Rechte klappte den Monitor herunter. »Ich komme, Mister Wilson. Das Licht können Sie auslassen. Ich brauche es nicht.« Als die Gestalt aufstand, sah er, dass es sich um eine Frau handelte, die er auf knapp eins siebzig schätzte. Im Vorbeigehen nahm sie einen Scheit aus dem Korb und warf ihn in die Glut; das trockene Holz begann sofort zu brennen. Der Anorak stand leicht offen, darunter trug sie einen schwarzen Rollkragenpullover und schwarze Cargohosen. »Haben Sie sich schon einen Namen ausgedacht?«, fragte sie und klang trotz des Flüsterns belustigt.
    »Miss Black passt ganz gut«, gab er zurück und setzte sich.
    Die Flammen beleuchteten sie und verliehen ihrem Gesicht einen äußerst gesunden Teint. Sie lächelte, und um die hellen Augen entstanden kleine Fältchen. »Ja, das ist in Ordnung.« Sie wählte den Stuhl ihm gegenüber, die Mündung der großkalibrigen Waffe blieb auf ihn gerichtet. »Hatten Sie wirklich vor, mich mit dem Kerzenleuchter anzugreifen?« Sie streifte die Kapuze zurück, nahm die Tasse und führte sie an die Lippen, blies über den Tee. Offensichtlich fürchtete sie sich nicht vor einem Giftanschlag.
    »Er stand gerade da, und ich denke nicht, dass ein Kamm aus dem Badezimmer Sinn gemacht hätte, Miss Black. Die Durchschlagskraft wäre zu gering gewesen. Zum Durchschneiden Ihres Halses wäre er auch nicht geeignet. Und mir ist auch leider kein Fall bekannt, bei dem ein Angreifer zu Tode gekämmt wurde«. Wilson trank langsam und musterte sie. Ihre Züge waren weder hübsch noch hässlich, keine besonderen Merkmale, die sie aus einer Menschenmasse gehoben hätten; die halblangen dunkelblonden Haare hatte sie zu einem kleinen Zopf zusammengefasst. Da sie immer noch leise sprach, vermutete er, dass es dafür einen bestimmten Grund gab.
    »Gut geantwortet.« Black grinste und nippte am Tee. »Oh, der ist sehr lecker. Welche Plantage?«
    »Mokalbarie.«
    »Wirklich ausgezeichneter Geschmack. Voll, malzig und nicht zu bitter, obwohl er es mit drei Minuten anstatt der vier auch tun würde.«
    »Sie hatten um vier Minuten gebeten.«
    »Ich weiß.« Sie nahm einen langen Schluck, bevor sie die Tasse absetzte. »Sie können sich denken, warum ich hier bin?«
    »Ich kann mir denken, wie Ihre
ursprüngliche Absicht
gelautet hat, aber inzwischen stehe ich wohl nicht mehr unabdingbar auf der Todesliste.« Wilson sah über den Tassenrand zu ihr. »Ich gestehe, dass ich nicht weiß, wem ich ein Dorn im Auge sein könnte und warum Sie erst heute erscheinen. Ich kann also nur vermuten: einer von Mister Byrnes alten Feinden? Oder sind Sie eine Killerin eines Verbrechersyndikats? Hat womöglich die verschollene Verwandtschaft Sie losgeschickt, um an Mister Byrnes Hinterlassenschaft zu gelangen?«
    Black wiegte den Kopf hin und her. »Nein, ich bin keine Killerin der Russen-Mafia oder der Yakuza. Es gibt meines Wissens
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