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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton
Autoren: S Rushdie
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Lonsdale Square war kalt, dunkel und klar. Zwei Polizisten standen auf dem Platz, doch als er den Wagen verließ, taten sie, als würden sie ihn nicht beachten. Sie machten kurze Kontrollgänge und patrouillierten die Straße vor der Wohnung hundert Meter weit in jede Richtung; noch im Haus konnte er ihre Schritte hören. Er begriff in dieser von Schritten heimgesuchten Stille, dass er sein Leben nicht mehr verstand, dass er nicht mehr wusste, was werden würde, und zum zweiten Mal an diesem Tag dachte er daran, dass ihm vielleicht nicht mehr viel Leben blieb, das er verstehen müsse. Pauline fuhr nach Hause, und Marianne ging früh zu Bett. Es war ein Tag zum Vergessen. Es war ein Tag zum Erinnern. Er legte sich neben seine Frau ins Bett; sie drehte sich zu ihm um, und sie umarmten sich ungelenk wie das unglücklich verheiratete Paar, das sie nun einmal waren. Dann lagen sie getrennt da, hingen ihren je eigenen Gedanken nach und fanden keinen Schlaf.
    Schritte. Winter. Eine Krähe flattert auf ein Klettergerüst. Ich informiere das stolze muslimische Volk der Welt ristle-te, rostle-te, mo, mo, mo, die Betroffenen hinzurichten, wo immer sie sein mögen. Ristle-te, rostle-te, hey bombosity, knickety-knackety, retro-quo-quality, willoby-wallaby, mo, mo, mo.

I
    Ein umgekehrter faustischer Pakt

A LS ER EIN KLEINER JUNGE WAR , hatte sein Vater ihm zur guten Nacht die wundersamen Geschichten des Ostens erzählt, sie erzählt und ausgeschmückt und auf seine Weise umerzählt, neu erzählt – die Geschichten von Scheherazade aus Tausendundeine Nacht , gegen den Tod erzählte Geschichten, die bewiesen, dass Geschichten zivilisieren und selbst mörderische Tyrannen zu überwinden vermögen. Er hatte ihm die Tierfabeln aus dem Panchatantra und all das Wundersame erzählt, das sich wie ein Wasserfall aus dem Kathasaritsagara ergoss, dem ›Meer der Erzählströme‹, diesem gewaltigen See der Geschichten in Kaschmir, dort, wo seine Vorfahren geboren worden waren, aber auch die Sagen von mächtigen Helden, gesammelt im Hamzanama und den Abenteuern des Hatim Tai (Letztere wurden auch verfilmt, und die dafür vorgenommenen zahlreichen Veränderungen der ursprünglichen Erzählungen fügte sein Vater ebenfalls den Gutenachtgeschichten zu). Mit diesen Geschichten aufzuwachsen bedeutete, zwei unvergessliche Lektionen zu lernen: Zum einen die, dass Geschichten nicht wahr waren (es gab keine ›echten‹ Dschinns in Flaschen, keine fliegenden Teppiche, keine Wunderlampen), nur konnte ihre Unwahrheit ihn Wahrheiten fühlen und wissen lassen, die ihm die Wahrheit selbst nicht zu vermitteln vermochte; und zum Zweiten lernte er, dass ihm alle Geschichten gehörten, so wie sie auch seinem Vater Anis und allen übrigen Menschen gehörten, sie waren so sehr seine wie die seines Vaters, fröhliche Geschichten, düstere Geschichten, heilige und weltliche Geschichten, die er nach Gefallen ändern, erneuern, beiseitelegen und erneut aufgreifen durfte, um darüber zu lachen, sich an ihnen zu erfreuen und in ihnen zu leben, mit ihnen und durch sie, um die Geschichten mittels seiner Liebe lebendig werden und sich durch sie im Gegenzug das eigene Leben bereichern zu lassen. Der Mensch ist das Geschichten erzählende Wesen, die einzige Kreatur auf Erden, die sich Geschichten erzählt, um zu begreifen, was für ein Geschöpf sie ist. Die Geschichte war sein Geburtsrecht, und niemand konnte ihm das nehmen.
    Negin, seine Mutter, kannte ebenfalls Geschichten. Negin Rushdie wurde als Zohra Butt geboren. Für ihre Heirat mit Anis änderte sie nicht nur den Nachnamen, sondern auch den Vornamen, erfand sich für ihn neu, ließ die Zohra hinter sich, an die er sich nur ungern erinnerte, hatte sie doch einmal einen anderen Mann von Herzen geliebt. Ob sie in ihrem Innersten Zohra oder Negin war, sollte der Sohn nicht herausfinden, da sie niemals über den Mann sprach, den sie verlassen hatte; lieber als ihre eigenen verriet sie anderer Leute Geheimnisse. Sie war ein Plappermaul der Spitzenklasse, und wenn er, ältestes Kind und einziger Sohn, auf ihrem Bett saß und ihre Füße massierte, wie sie es gernhatte, nahm er die köstlichen, oft auch zotigen Klatschgeschichten in sich auf, die sie in ihrem Kopf herumtrug, diesen gigantischen, sich verzweigenden und verästelnden Wald miteinander flüsternder Familienstammbäume, der in ihr wuchs, behangen mit den saftigen, verbotenen Früchten des Skandals. Und auch diese Geheimnisse, das lernte er, gehörten ihm,
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