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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton
Autoren: S Rushdie
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mit ihren schwarz angelaufenen, blutigen, leergehackten Augenhöhlen. Das war das Thema des heutigen Tages: seine gar nicht komische Valentinspost von bärtigen Männern, verschleierten Frauen und vom todkranken Alten, der sterbend in seinem Zimmer lag und mit letzter Kraft nach düsterem, mörderischem Ruhm strebte. Sobald der Imam an die Macht gekommen war, hatte er viele von denen umgebracht, die ihm zur Macht verholfen hatten, auch alle, die ihm missfielen. Gewerkschafter, Feministen, Sozialisten, Kommunisten, Homosexuelle, Prostituierte, sogar seine ehemaligen Statthalter. In Die satanischen Verse gibt es das Porträt eines ihm ähnlichen Imams, der zum Ungeheuer wird, dessen gigan tisches Maul die eigene Revolution frisst. Der wahre Imam hatte sein Land in einen sinnlosen Krieg gegen seinen Nachbarn geführt, und eine ganze Generation junger Menschen war gestorben, Hunderttausende Jugendliche, ehe der Alte dem ein Ende setzte. Er sagte, Frieden mit dem Irak zu schließen sei, als würde er Gift nehmen, aber er hat es geschluckt. Danach empörten sich die Toten gegen den Imam, und die Revolution wurde unpopulär. Er suchte eine Möglichkeit, die Gläubigen wieder hinter sich zu vereinen, und er fand, dass ihm ein Buch und dessen Autor ebendiese Möglichkeit boten. Das Buch war des Teufels Werk, der Autor war der Teufel, und sie lieferten ihm den Feind, den er brauchte. Dieser Autor, der in einer Souterrainwohnung in Islington zusammen mit seiner Frau kauerte, von der er sich bereits halb getrennt hatte. Das war der Teufel, den der sterbende Imam brauchte.
    Die Schule war zu Ende, und er wollte unbedingt Zafar sehen. Er rief Pauline Melville an und bat sie, Marianne Gesellschaft zu leisten, während er sich mit seinem Sohn traf. Anfang der Achtziger war Pauline in Highbury Hill seine Nachbarin gewesen, eine lebhaft gestikulierende, warmherzige Frau mit strahlenden Augen, eine Schauspielerin aus Guyana, voller Geschichten darüber, wie einer ihrer Vorfahren Evelyn Waugh kennengelernt hatte und, so vermutete sie, das Vorbild für Mr Todd wurde, diesen wunderlichen alten Kauz, der Tony Last im Regenwald gefangen nahm und ihn in Eine Handvoll Staub zwang, endlos laut Dickens vorzulesen; Geschichten auch darüber, wie sie ihren Mann Angus vor der Fremdenlegion rettete, indem sie sich vor die Tore des Forts stellte und schrie, bis man ihn freiließ; oder darüber, wie es war, Adrian Edmondsons Mum in der erfolgreichen TV -Comedyserie The Young Ones zu spielen. Sie trat als Stand-up-Komikerin auf und schuf sich eine männliche Figur, die für sie »so gefährlich und beängstigend wurde, dass ich aufhören musste, ihn zu spielen«. Sie schrieb mehrere ihrer Guyana-Geschichten auf und zeigte sie ihm. Sie waren sehr, sehr gut, und als sie sie in ihrem ersten Buch Shape-Shifter veröffentlichte, wurden sie allgemein gelobt. Pauline war stark, gewitzt, loyal, und er vertraute ihr bedingungslos. Sie kam sofort und ohne ein überflüssiges Wort, obwohl sie Geburtstag und manche Vorbehalte gegen Marianne hatte. Er genoss es, Marianne in der Souterrainwohnung am Lonsdale Square zurücklassen und allein zur Burma Road fahren zu können. Der schöne sonnige Tag, dessen erstaunlicher Winterglanz ihm wie ein Vorwurf gegenüber den unschönen Nachrichten vorgekommen war, ging zu Ende. London im Februar, die Schulkinder machten sich im Dunkeln auf den Heimweg. Als er zum Haus von Clarissa und Zafar kam, war die Polizei bereits dort. »Da sind Sie ja«, sagte ein Beamter. »Wir haben uns schon gefragt, wo Sie abgeblieben sind.«
    »Was ist los, Dad?« Sein Sohn hatte einen Blick, wie man ihn bei keinem neunjährigen Jungen sehen möchte. »Ich habe ihm erklärt«, sagte Clarissa fröhlich, »dass man auf dich aufpasst, bis dieser Sturm sich legt, und dass bald alles wieder in Ordnung sein wird.« Dann umarmte sie ihn, wie sie ihn seit fünf Jahren, seit dem Ende ihrer Ehe, nicht mehr umarmt hatte. Sie war die erste Frau, die er je geliebt hatte. Am 26. Dezember 1969, fünf Tage vor dem Ende der Sechziger, lernten sie sich kennen, er war damals zweiundzwanzig, sie einundzwanzig. Clarissa Mary Luard. Sie hatte lange Beine, grüne Augen, trug an jenem Tag einen Hippie-Schaffellmantel, ein Stirnband im dicht gelockten, rotbraunen Haar und strahlte etwas aus, das jedes Herz erhellte. Freunde in der Welt der Popmusik nannten sie Happily (doch ebenso happily verschwand dieser Name mit dem schrulligen Jahrzehnt, das ihn hervorbrachte). Ihre
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