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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton
Autoren: S Rushdie
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Mutter trank zu viel, und ihr Vater war völlig verstört aus dem Zweiten Weltkrieg heimgekehrt, in dem er eine Pathfinder geflogen hatte; als sie fünfzehn Jahre alt war, sprang er von einem Hochhaus in den Tod. Ihr gehörte ein Beagle namens Bauble, der in ihr Bett pinkelte.
    Es gab so manches, was sie hinter ihrem strahlenden Lächeln verbarg; so mochte sie es nicht, wenn man die Schatten in ihr sah, und sobald die Melancholie sie überkam, ging sie auf ihr Zimmer und verschloss die Tür. Vielleicht spürte sie dann den Gram ihres Vaters und fürchtete, er könnte sie ebenfalls von einem Gebäude springen lassen, weshalb sie sich einkapselte, bis es ihr wieder besser ging. Sie trug den Namen der tragischen Titelheldin eines Romans von Samuel Richardson und war unter anderem in Harlow auf die Technische Hochschule gegangen. Clarissa aus Harlow, ein seltsames Echo der fiktiven Clarissa Harlowe, die noch einen Selbstmord in ihr Umfeld brachte, diesmal allerdings einen, der nur auf dem Papier geschah; ein weiteres, gefürchtetes Echo, das sie mit strahlendem Lächeln auszublenden suchte. Ihre Mutter, Lavinia Luard, die gleichfalls einen Spitznamen hatte, einen etwas peinlichen, wurde Lavvy-Loo genannt, Lokus-Klo , doch rührte sie die Familientragödie in ein Glas Gin, um sie darin aufzulösen und die fröhliche Witwe vor Männern spielen zu können, die dies auszunutzen wussten. Zuerst war da ein verheirateter Ex-Wachoberst namens Ken Sweeting, der von der Isle of Man kam und ihr den Hof machte, seine Frau aber nie verließ und auch nie die Absicht hatte. Als Lavinia später nach Andalusien ins Dorf Mijas zog, folgte eine Reihe kontinentaleuropäischer Tunichtgute, die willens waren, auf ihre Kosten zu leben und ihr Geld mit vollen Händen auszugeben. Lavinia war strikt dagegen, dass ihre Tochter mit ihm zusammenlebte und sich dann auch noch entschied, diesen seltsamen, langhaarigen indischen Schriftsteller zu heiraten, über dessen familiären Hintergrund sie nichts Genaues wusste und der nicht besonders viel Geld zu haben schien. Sie war mit der Familie Leworthy aus Westerham in Kent befreundet und plante, ihre schöne Tochter mit dem Sohn der Leworthys zu verehelichen, mit Richard, einem blassgesichtigen, hageren Buchhalter mit warholeskem weißblondem Haar. Ihre Tochter und Richard gingen miteinander aus, doch traf sich Clarissa insgeheim auch mit dem langhaarigen indischen Autor, und sie brauchte zwei Jahre, um sich zwischen den beiden Männern zu entscheiden, doch eines Abends im Januar 1972, als er eine Einweihungsparty in seiner frisch gemieteten Wohnung in Cambridge Gardens in Ladbroke Grove gab, kam sie und hatte ihren Entschluss gefällt; danach waren sie beide unzertrennlich. Es sind stets die Frauen, die sich entscheiden; den Männern bleibt nur, dankbar zu sein, wenn sie die Glücklichen sind, für die sie sich entschieden haben.
    All die Jahre des Begehrens, der Liebe, der Ehe, Elternschaft, Un treue (meist seinerseits), Scheidung und Freundschaft schwangen an diesem Abend in ihrer Umarmung mit. Die Ereignisse des Tages hatten den Schmerz fortgespült, und darunter kam etwas Altes, Tieferes zum Vorschein, das nicht zerstört worden war. Außerdem waren sie natürlich die Eltern dieses prächtigen Jungen, und als Eltern waren sie stets vereint und einer Meinung. Zafar wurde im Juni 1979 geboren, als die Arbeit an Mitternachtskinder dem Ende zuging. »Kneif die Beine zusammen«, hatte er gesagt, »ich schreibe, so schnell ich kann.« Eines Nachmittags gab es falschen Alarm, und er hatte gedacht: Das Kind wird um Mitternacht geboren , aber es sollte dann doch anders kommen, die Geburt war am 17. Juni, nachmittags um Viertel nach zwei. Er schrieb dies als Widmung ins Buch: Für Zafar Rushdie, der, entgegen aller Erwartung, an einem Nachmittag geboren wurde . Und der nun neuneinhalb Jahre alt war und besorgt fragte: Was ist denn los ?
    »Wir müssen wissen«, sagte der Polizeibeamte, »was Sie nun vorhaben.« Er überlegte, ehe er schließlich antwortete: »Wahrscheinlich fahre ich gleich nach Hause« – und die erstarrenden Mienen der Männer in Uniform bestätigten seinen Verdacht. »Nein, Sir, davon raten wir Ihnen dringend ab.« Daraufhin erzählte er, was er von Anfang an erzählen wollte, dass nämlich Marianne in einer Souterrainwohnung am Lonsdale Square auf ihn wartete. »Die Wohnung ist nicht als Ort bekannt, an dem Sie sich regelmäßig aufhalten, Sir?« Nein, Officer, ist sie nicht. »Das ist
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