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Jones, Diana Wynne

Jones, Diana Wynne

Titel: Jones, Diana Wynne
Autoren: 03 Der Fluss der Seelen
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Rinnsale aus braunem Wasser sickerten schon über die Böschung. Der Schlamm war gänzlich überflutet. Während ich zuschaute, stieg unter der Böschung ein Rand aus gelben Schaumblasen auf. Das Wasser färbte sich immer gelber, wie es während der Flut immer geschieht, doch das Gelb war sehr dunkel, und das ist nicht normal. Der reine, erdige Geruch, den das Hochwasser mit sich bringt, erfüllt die Luft, aber ich fand, dass es stärker roch als sonst, und viel durchdringender.
    »In den Bergen, wo der Strom entspringt, herrscht jetzt ein anderes Wetter, das ist alles«, sagte Hern gereizt. »Soll ich Gull wecken und ihm etwas Milch zu trinken geben?«
    Gull schlief so fest, dass wir ihn nicht wach bekamen. Wir ließen ihn in Ruhe und aßen unser Abendbrot. Wir fühlten uns eigenartig – aufgeregt wegen des rollenden Wassers draußen und zugleich bedrückt vor Elend. Es verlangte uns nach süßem Essen, doch noch während wir es verzehrten, wünschten wir uns etwas Salziges. Wir versuchten gerade Robin zu überreden, uns etwas gepökelte Forelle zu braten, als wir ein merkwürdiges Geräusch hörten. Wir verstummten und lauschten.
    Zuerst hörten wir nur den Strom, der rauschte und dröhnte. Dann aber vernahmen wir, dass jemand an der Hintertür kratzte – kratzte, nicht klopfte.
    »Ich gehe«, sagte Hern und ergriff auf dem Weg zur Tür das Fleischermesser.
    Als er die Hintertür öffnete, stand Onkel Falk vor ihm. Er legte den Finger auf die Lippen – wir sollten leise sein. Wir verbogen uns auf unseren Stühlen und sahen zu, wie er hereinhumpelte. Er hatte sich in der Zwischenzeit gesäubert, aber er zitterte noch immer.
    »Ich dachte schon, die Heiden wären da«, sagte Hern.
    »Die wären für euch die bessere Gesellschaft«, entgegnete Onkel Falk lächelnd. Robin reichte ihm ein Marmeladetörtchen, für das er sich bedankte, aber er wirkte nicht mehr ungezwungen. Er jagte uns Angst ein. »Zwitt war bei mir«, sagte er, »und er hat euch heidnische Zauberer genannt.«
    »Das sind wir aber nicht«, erwiderte Entchen. »Das weiß doch jeder!«
    »Wirklich?«, entgegnete Onkel Falk. Er beugte sich über den Tisch, sodass die Laterne seinen riesigen, verbogenen, zitternden Schatten an die Wand warf, auf die Regale, Tassen und Teller. Der Schatten wirkte mit seiner langen, bebenden Nase und dem spitzen Kinn so bedrohlich, dass ich glaube, die meiste Zeit hindurch ihn angeblickt zu haben und nicht meinen Onkel. Noch heute befällt mich Furcht, wenn ich an diesen Schatten denke. »Wirklich?«, fragte Onkel Falk. »In Iglingen gibt es Männer, die Heiden mit ihren eigenen Augen erblickt haben und sich daran erinnern, dass eure Mutter – sie war solch ein reizendes Mädchen, kleine Robin – genauso ausgesehen hat wie die Heiden. Außerdem sagt Zwitt, dass ihr gottlos den Strom …«
    »Das ist Unsinn!«, unterbrach ihn Hern. Mit jedem Wort, das Onkel Falk sprach, war er ärgerlicher geworden. Gütig wie er war, nahm Onkel Falk daran keinen Anstoß.
    »Du solltest mal nachts zur alten Mühle gehen, mein Junge, wie ich es tue, wenn ich nach Muscheln suche. Und es ist sehr schade, dass weder ihr noch eure Kuh die Krankheiten bekommen habt, die der Strom hierher gebracht hat.«
    »Aber wir alle sind krank gewesen!«, wandte Robin ein. »Entchen hatte eine ganze Nacht lang Fieber.«
    »Und hat überlebt, woran andere seines Alters starben«, entgegnete Onkel Falk. »Robin, mein Augäpfelchen, mit Zwitt kannst du nicht streiten. Das ganze Dorf steht hinter ihm. Wenn Entchen gestorben wäre, hätten die Leute sich auch dafür einen Grund erdacht. Versteht ihr immer noch nicht? Begreift es denn keiner von euch?«
    Der riesige Schatten an der Wand bewegte sich, während unser Onkel uns nacheinander anblickte. Er wollte darauf hinaus, dass wir anscheinend Fremde in unserem eigenen Dorf seien, doch so war es eigentlich schon immer gewesen. Ich sah Robin an, dass sie das Gleiche dachte wie ich. Entchen starrte blicklos vor sich hin. Hern kreischte fast: »O ja, ich verstehe es sehr gut! Jetzt, wo mein Vater tot ist, hat Zwitt keine Angst mehr vor uns!«
    Der Schatten schüttelte den Kopf und beugte sich über zwei Regale. »Aber das ist es doch gerade, mein Junge. Das ist ja das Schlimme. Sie sind verängstigt. Die Heiden haben sie geschlagen. Dafür brauchen sie einen Schuldigen. Und die Heiden haben Zauber gewirkt. Lauscht doch nur auf den Strom!«
    Wir hörten ihn alle. Ich hatte noch nie ein solches Rauschen vernommen. Das
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