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John Wells Bd. 3 - Stille des Todes

John Wells Bd. 3 - Stille des Todes

Titel: John Wells Bd. 3 - Stille des Todes
Autoren: Alex Berenson
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geöffneten Fenstern.
    Am schlimmsten war sein Nachbar Michail, ein versoffener Taugenichts, der entweder Pornofilme sah oder seine Frau verprügelte. An einem besonders üblen Abend vor einem Jahr hatte Grigorij an Michails Tür geklopft und gedroht, die Polizei zu rufen.
    Eine halbe Stunde später hörte er Michail vor seiner Tür herumbrüllen. »Komm raus, du fetter Feigling!« Er tobte so lange, bis Grigorij öffnete. Das war ein Fehler. Michail zerrte ihn in den Gang hinaus und hielt ihm eine Pistole unter das Kinn.
    »Falls du dich je wieder mit mir anlegst, du Elefant …« Michail stieß Grigorij zu Boden und spuckte ihm ins Gesicht. Als Grigorij zusammengekrümmt auf dem Beton lag, trat er auf ihn ein. Die Stahlkappen seiner Stiefel hinterließen blaue Flecken, die erst nach Wochen verblassten.
    Aber das Problem Michail war gelöst. Dafür hatten Grigorijs neue Freunde gesorgt. Grigorij, den plötzlich trotz der überheizten Wohnung fröstelte, schenkte sich
noch ein Glas Pfirsichschnaps ein. Bald schon würde er sich entscheiden müssen. Wobei es im Grunde nichts zu entscheiden gab.
    Er kippte den Schnaps in den Ausguss. Heute Abend musste er nüchtern bleiben.
     
    Für dieses Leben hatte Grigorij sechs Jahre lang an der Uraler Staatlichen Universität in Jekaterinburg Ablaufund Planungsforschung studiert. Zur Spitze seiner Klasse hatte er nicht gehört. Diese Leute gingen zu Energieversorgern wie Gazprom. Mittelmäßige Studenten wie Grigorij hatten weniger Glück. Sie wurden Ingenieure bei Rosatom, dem Ministerium, dem die russischen Kernwaffenanlagen und -lager unterstanden. Grigorij leitete im Waffenlager von Majak die Abteilung für Schutz, Kontrolle und Verbuchung nuklearen Materials. Er lebte in Ozersk, der durch Kontrollpunkte und Stacheldraht abgeschotteten »verbotenen Stadt« bei Majak.
    Grigorij hatte nicht viele Freunde, aber er hatte sich schon immer gut mit seinem Cousin Tajid verstanden. Wie Grigorij lebte Tajid in Ozersk und arbeitete ebenfalls in Majak, allerdings als Wachmann. In den langen, kalten Nächten, wenn selbst die Wände seiner Wohnung ihn wegen seiner Einsamkeit zu verhöhnen schienen, landete Grigorij oft bei Tajid. Er nahm immer eine Flasche Stolichnaya und eine frische Orange für Tajids Frau mit, um sich für seine Aufdringlichkeit zu entschuldigen. Dann saß er mit Tajid in der Küche und trank, bis er nur noch nach Hause torkeln konnte.
    Aber in den letzten drei Jahren war er bei seinem Cousin nicht mehr so willkommen gewesen. Tajid hatte sich mit einer Gruppe Kasachen angefreundet, die behaupteten,
als Taxifahrer zu arbeiten, was sie jedoch kaum jemals taten, soweit Grigorij das beurteilen konnte. Sie tranken die ganze Zeit Kaffee und lasen im Koran. Tajid und Grigorij stammten beide aus muslimischen Familien, hatten die Religion jedoch in ihrer Kindheit und Jugend nie praktiziert. Als sie jung waren, wurde organisierte Religiosität vom kommunistischen Regime missbilligt. Mittlerweile war der Islam zwar nicht mehr illegal, aber die russische Regierung stand ihm nach wie vor ablehnend gegenüber. In Majak wurden die Mitarbeiter davor gewarnt, sich mit »ausländischen religiösen Gruppierungen« einzulassen. Wie jeder wusste, waren damit islamische Fundamentalisten gemeint.
    »Was willst du mit diesen Bauern?«, fragte Grigorij seinen Cousin an einem Winterabend. »Das sind noch nicht einmal Russen.«
    »Aber sie folgen dem rechten Weg, Cousin. Komm und überzeuge dich selbst.«
    »Sieh mich an! Habe ich etwa Grund, an Gott zu glauben?« Grigorij lachte. »Ein Gläschen, Cousin?«
    »Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht mehr trinke.«
    »Wie du willst.« Grigorij kippte einen Wodka hinunter.
    Als er das nächste Mal zu Tajid kam, war sein Cousin nicht allein. Einer der Muslime war ebenfalls da.
    Tajid warf einen Blick auf die Flasche Wodka in Grigorijs Hand. »Gib das her«, sagte er mit leiser, wütender Stimme.
    Grigorij reichte ihm die Flasche und musste entsetzt zusehen, wie Tajid sie aus dem Fenster warf.
    »Bring mir nie wieder Alkohol ins Haus.«
    »Cousin …«
    »Geh. Sofort! Du bringst Schande über mich.«

    Grigorij wusste nicht, was er sagen sollte. Tajid war sein ältester Freund. Eigentlich sein einziger Freund, abgesehen von den alten Männern im Schachklub der Stadt, die ebenso einsam waren wie er selbst.
    Ein paar Monate lang meldete er sich nicht bei Tajid. Schließlich nahm er seinen ganzen Mut zusammen und ging zur Wohnung seines Cousins.
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