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John Grisham

John Grisham

Titel: John Grisham
Autoren: Das Gesettz
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versorgen, und Adrian versuchte tapfer, die großzügig bemessenen Mahlzeiten zu genießen, die sie für ihn zubereitete. Sie überredete ihn, Maisbrot zu essen, obwohl es Butter, Milch und Eier enthielt. Sie hatte noch nie jemanden getroffen, der kein rotes Fleisch, keinen Fisch, kein Huhn und keine Milchprodukte aß, und mehr als einmal fragte sie: »Sind alle Leute in Kalifornien so?«
    »Nein, aber es gibt dort eine Menge Vegetarier.«
    »Dabei sind Sie doch so gut erzogen worden.«
    »Ich will nicht darüber reden, wie ich erzogen wurde, Emporia. Meine Kindheit war ein einziger Alptraum.«
    Dreimal am Tag deckte sie den Tisch, zu den Zeiten, die er bestimmte, und gemeinsam arbeiteten sie daran, die Dauer der Mahlzeiten zu verlängern. Adrian wusste, wie wichtig es ihr war, ihn ordentlich zu ernähren, und ihr zuliebe aß er, so viel er konnte. Doch nach zwei Wochen war klar, dass er immer noch Gewicht verlor.
    Sie saßen gerade beim Mittagessen, als der Prediger anrief. Wie immer ging Emporia ans Telefon, das an einer Wand in der Küche hing. Adrian durfte das Telefon natürlich benutzen, aber er tat es nur selten. Es gab niemanden in Clanton, mit dem er reden konnte. Familienmitglieder rief er nicht an, und sie riefen ihn auch nicht an. In San Francisco hatte er noch Freunde, doch von denen waren inzwischen fast alle gestorben, und die Stimmen der noch Lebenden wollte er nicht hören.
    »Guten Tag, Reverend«, sagte Emporia. Dann wandte sie sich ab und zog die Telefonschnur aus, so weit es nur ging. Nachdem sie kurz miteinander geredet hatten, legte sie mit einem freundlichen »Dann bis um drei Uhr« auf. Sie setzte sich wieder an den Tisch und biss in ihr Stück Maisbrot.
    »Wie geht es dem Reverend?«, erkundigte sich Adrian.
    »Gut, nehme ich an.«
    »Kommt er um drei Uhr vorbei?«
    »Nein. Ich gehe zur Kirche. Er sagte, dass er etwas mit mir besprechen möchte.«
    »Wissen Sie, um was es geht?«
    »Sie sind seit neuestem ja so neugierig.«
    »Emporia, ich wohne jetzt seit zwei Wochen in Lowtown, und mir ist klargeworden, dass hier jeder über jeden Bescheid weiß. Es wäre ja fast unhöflich, nicht nachzufragen. Außerdem sind Schwule neugieriger als Heterosexuelle. Haben Sie das gewusst?«
    »Das habe ich ja noch nie gehört.«
    »Es stimmt aber. Das wurde wissenschaftlich bewiesen. Also: Warum kommt der Reverend nicht her, um Sie zu besuchen? Gehört es denn nicht zu seinem Job, Hausbesuche zu machen, nach seinen Schäfchen zu sehen, Neuzugänge in der Gemeinde wie mich zu begrüßen? Vor drei Tagen habe ich ihn auf der Veranda gegenüber gesehen, wo er sich mit Doris und Herman unterhalten hat. Ab und zu hat er mal rübergesehen, als könnte er sich hier Fieber holen. Sie mögen ihn nicht, stimmt's?«
    »Der andere Prediger hat mir besser gefallen.«
    »Mir auch. Ich gehe nicht mit Ihnen in die Kirche, Emporia, also fragen Sie mich bitte nicht noch einmal.«
    »Ich habe Sie nur zweimal gefragt.«
    »Ja, und ich habe mich für die Einladung bedankt. Es ist sehr nett von Ihnen, aber ich habe kein Interesse daran, in Ihre oder irgendeine andere Kirche zu gehen. Ich bin mir nämlich nicht so sicher, ob ich zurzeit überhaupt irgendwo willkommen bin.«
    Darauf hatte sie keine Antwort.
    »Gestern Nacht hatte ich einen Traum. Ein Gottesdienst in einer Kirche, einer weiß angestrichenen Kirche hier in Clanton, eine dieser spektakulären Höllenfeuer-mit-Rauch-und-Schwefel-Geschichten, bei denen die Leute in den Bänken herumrollen und ohnmächtig werden, der Chor aus vollem Hals ein Kirchenlied schmettert und der Prediger am Altar alle Sünder auffordert, vorzutreten und zu bereuen. Sie wissen, was ich meine?«
    »Das ist bei uns jeden Sonntag so.«
    »Ich kam ganz in Weiß gekleidet durch die Tür und sah noch schlimmer aus als jetzt. Ich ging den Mittelgang hinunter auf den Prediger zu, einen Ausdruck des Entsetzens im Gesicht und unfähig, auch nur ein Wort zu sagen. Der Chor hörte mitten in der Strophe zu singen auf. Alle erstarrten, als ich zum Altar ging, was eine halbe Ewigkeit dauerte. Schließlich brüllte jemand: >Das ist er! Das ist der Kerl, der AIDS hat!< Jemand anders brüllte: >Weg hier!< Und dann war die Hölle los. Alle flüchteten in Panik, Mütter packten ihre Kinder. Ich ging immer noch auf den Altar zu. Männer sprangen aus den Fenstern. Ich ging weiter. Einige von den wahnsinnig fülligen Sängerinnen in ihren wallenden goldenen Messgewändern rutschten aus und fielen auf ihre fetten
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