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Joel 2 - Die Schatten wachsen in der Daemmerung

Joel 2 - Die Schatten wachsen in der Daemmerung

Titel: Joel 2 - Die Schatten wachsen in der Daemmerung
Autoren: Henning Mankell
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Papierschnipsel zu Boden flattern läßt, wo ihn tausend Absätze in den Dreck treten werden, da haßt Joel ihn mehr, als er je einen Menschen gehaßt hat. Es ist, als ob der Käsemann auf Gertrud herumgetrampelt wäre.
    Joel geht. Er geht die Treppe zum Hinterausgang hinunter, wo sie die Instrumente abgeladen haben. Er öffnet die Tür und geht hinaus. Es ist Herbst geworden. Kalt und sternklar. Das Saxophon ist fast nicht mehr zu hören. Aber in seinem Kopf hallt das Lachen des Käsemanns wider. Vor dem Gemeindehaus ist es laut. Da sind alle, die Engman nicht eingelassen hat. Jemand steht gegen ein Fallrohr gelehnt und übergibt sich. Aus einem Auto tönt Musik von einem mit Batterie betriebenen Grammophon. Plötzlich entdeckt er Gertrud.
    Sie steht im Schatten auf der anderen Straßenseite. Sie steht da und schaut zu dem erleuchteten Eingang herüber. Geh nicht hin, denkt Joel. Geh nach Hause. Der Käsemann ist nichts wert. Ich hab mich geirrt…
    Da macht Gertrud einen Schritt nach vorn. Jetzt steht sie im Licht einer Straßenlaterne. Joel sieht, daß sie ihren besten Mantel trägt. Den sie aus Vorhangstoffen und Kleidern genäht und mit einer Borte aus Fuchsfell besetzt hat. Dort, wo ihre Nase gewesen wäre, steckt ihr feinstes Taschentuch aus chinesischer Seide.
    Jetzt überquert sie die Straße in Richtung Eingang. Joel läuft auf sie zu. Mitten auf der Straße bleibt er vor ihr stehen.
    »Joel«, sagt sie erstaunt, »was hast du denn für einen Hut auf?«
    »Geh nicht rein«, sagt Joel. »Tu's nicht.«
    »Ich hab Lust zu tanzen«, sagt sie.
    »Geh nicht rein«, wiederholt Joel.
    Sie sieht ihn verwundert an. »Was ist mit dir los?« fragt sie. »Ich bin da drinnen mit jemandem verabredet.« »Ich weiß«, sagt Joel. »Geh nicht rein.«
    Verständnislos sieht Gertrud ihn an. Dann wird sie ernst. Sehr ernst. Ihre Stimme klingt scharf. Wie ein Messer, denkt Joel. Jetzt schneidet sie mich.
    »Was weißt du?« fragt sie. Sie redet so laut, daß ein paar Jugendliche, die um ein Auto herumlungern, aufmerksam werden und zuhören.
    »Was weißt du? «Sie brüllt fast. »WAS WEISST DU?«
    »Ich hab die Briefe geschrieben!« schreit Joel. »Aber ich hab nichts Böses gewollt!«
    Gertrud sieht ihn mit starren Augen an.
    »Ich hab nichts Böses gewollt«, wiederholt Joel. »Ich dachte, du und der Käsemann, ihr könntet heiraten.« »Käsemann!« ruft sie. »Wovon redest du eigentlich?« Sie packt ihn am Arm. Schüttelt ihn. Neugierige kommen näher, bilden einen Kreis um sie. Ein Auto, das nicht vorbeikann, hupt schrill.
    »Wovon redest du eigentlich?« brüllt sie wieder. »Ich hab die Briefe geschrieben!« schreit Joel. Sie sieht ihn an. Langsam begreift sie.
    Dann gibt sie ihm eine Ohrfeige. Hut und Brille fallen herunter und rollen gegen den Bordstein. Sie hat so hart zugeschlagen, daß es in Joels Kopf brummt. Er ist fast umgekippt. Wie durch einen Nebel sieht er Gertrud weglaufen. Ihr Mantel flattert wie ein zerschossener Flügel. Um Joel herum wird gelacht und gekichert. »Was ist das für ein Krach?« fragt jemand.
    »Die nasenlose Gertrud prügelt sich«, antwortet eine Stimme.
    Joel wünschte, vor seinen Füßen wäre ein Gullydeckel. Einen Deckel, den er abheben könnte. Dann würde er in die Unterwelt kriechen. Vielleicht gab es da unten ja einen Gang, der bis zum Meer führt. Oder einen Tunnel, der von allem weg zu Mama Jenny führt. Er hebt Hut und Brille auf und läuft davon. Hinter seinem Rücken hallt Gelächter. Gertrud ist nicht mehr da.
    Seine Wange brennt. Jetzt hab ich Feuer gefangen, denkt Joel. Jetzt wird mein Traum wahr. Jetzt verbrenne ich. Bald schlagen Flammen aus meinen Wangen.
    Er läuft den ganzen Weg nach Hause. Als er ankommt, ist er so müde, daß er meint, sich übergeben zu müssen. Das Leben ist plötzlich so schwer. Es gibt zu viele Fragen.
    Vielleicht unterscheidet das Kinder von Erwachsenen, denkt er. Man muß begreifen, daß es so viele Fragen gibt, auf die man keine Antwort bekommt.
    Langsam geht er die Treppe hinauf.
    Vor sich, in sich, sieht er die ganze Zeit Gertrud. Der Mantel, der wie ein zerschossener Flügel flatterte. Man kann sich in sich selbst verirren, denkt Joel. Man muß gar nicht in den Wald gehen, um sich zu verirren.
    Man trägt Tag und Nacht in sich. Und wenn es tief drinnen in einem dämmert, dann werden die Schatten lang.

11
    Joel konnte sein Unglücklichsein nicht verbergen. Natürlich merkte Papa Samuel sofort, daß mit ihm etwas nicht stimmte.
    Auch daran
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