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Joel 2 - Die Schatten wachsen in der Daemmerung

Joel 2 - Die Schatten wachsen in der Daemmerung

Titel: Joel 2 - Die Schatten wachsen in der Daemmerung
Autoren: Henning Mankell
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suchen konnte. Wenn er es bis dahin schaffte, würden Geronimo und seine Krieger ihn nie einholen. Und dahinter war der Wald…
    Als er den Waldrand erreichte, stellte er das Spiel ab. So dachte er: Die Phantasie war für ihn etwas, das man anstellen und abstellen konnte wie den Wasserhahn. Er ging in den Wald hinein.
    Da die Sonne tief am Himmel stand, herrschte Dämmerung zwischen den Bäumen. Die Schatten zwischen den groben Stämmen wuchsen, wuchsen und wurden lang. Plötzlich war der Weg verschwunden. Um Joel herum war nur Wald.
    Ein einziger Schritt, dachte er, ein einziger Schritt, und die ganze Welt verschwindet.
    Er lauschte auf den Wind, der in den Bäumen rauschte. Jetzt konnte er üben, sich zu verlaufen. Er würde etwas tun, was noch nie ein Mensch vor ihm getan hatte. Er würde beweisen, daß nicht nur die vom Weg abkommen können, die sich verirren.
    Von einem Baumwipfel hoch oben flog eine Krähe auf. Joel zuckte zusammen, als ob die Krähe dicht neben ihm gesessen hätte. Dann war es wieder still.
    Die Krähe machte ihm angst. Hastig trat er einen Schritt zurück und vergewisserte sich, daß die Welt noch da war. Er hängte den Rucksack an einen herausragenden Ast und machte zehn Schritte geradewegs in den Wald. Dann ging er noch zehn Schritte. Als er sich umdrehte, konnte er den Rucksack nicht mehr sehen. Da schloß er die Augen und wirbelte herum, damit ihm schwindlig wurde und er die Richtung verlor. Als er die Augen wieder öffnete, wußte er nicht, in welche Richtung er gehen sollte. Jetzt hatte er sich verirrt.
    Rund um ihn herum war es still. Nur der Wind rauschte. Plötzlich hatte er Lust, den Plan aufzugeben. So zu tun, daß man sich mit Absicht verirrte, war ein unmögliches Spiel. Das war nur eine Art von Kindischsein. Das konnte sich jemand, der bald zwölf wurde, nicht mehr erlauben.
    Joel dachte, das sei vielleicht der große Unterschied. Mit zwölf konnte man nicht mehr so tun als ob. Es dämmerte schon, als er seinen Rucksack wiederfand und zum Weg zurückkehrte. Er überlegte, ob es besser gewesen wäre, wenn er als Mädchen geboren worden wäre. Joel oder Joella zu sein, was war am besten?
    Jungen waren stärker. Außerdem spielten sie schönere Spiele als Mädchen. Wenn sie erwachsen waren, hatten sie aufregendere Berufe. Aber ganz sicher war er nicht. Was war eigentlich wirklich am besten? Einen Bart zu haben, der nach Fuchsfell roch? Oder Brüste, die im Pullover wippten? Kinder zu bekommen oder selbst Kinder zu gebären? Gekitzelt zu werden oder selbst zu kitzeln? Er trabte nach Hause, ohne sich entscheiden zu können. Wütend trat er nach einem Stein auf dem Kiesweg. Das war ein schlechter Sonntag gewesen. Wenn er nach Hause kam, würde er in das Logbuch schreiben, daß es ein richtig schlechter Tag gewesen sei. Er hatte auch keine Lust, das Geronimopuzzle zu legen. Er hatte zu überhaupt nichts Lust. Und am nächsten Tag war es soweit. Dann mußte er wieder zur Schule.
    Er biß sich ganz fest in die Zunge, damit der Tag noch schlimmer wurde. Nichts mißfiel ihm so sehr wie nicht zu wissen, was er
dann
machen sollte.
    Das Leben war eine Aneinanderreihung von »dann«. Das hatte er schon herausbekommen. Es kam darauf an, daß das nächste »dann« besser war als das vorherige. Aber heute war alles schiefgelaufen.
    Er schob die Pforte zu dem verwilderten Garten auf, wo er wohnte.
    Die Eberesche leuchtete rot. Die Sonne war hinterm Horizont jenseits des Flusses verschwunden.
    Nichts passiert, dachte Joel.
    In diesem Kaff passiert nie was.
    Aber er irrte sich.
    Am Tag danach, der ein Montag war mit Nebel und Nieselregen, an diesem Tag passierte etwas, was Joel sich niemals hätte träumen lassen.
    Er würde ein Wunder erleben, ein richtiges Mirakel!

2
    Der Tag hätte nicht besser für Joel beginnen können. Als Papa Samuel ihn kurz nach sieben an der Schulter rüttelte, erwachte er aus einem Alptraum. Er hatte geträumt, daß er brannte. Aus seinen Nasenlöchern waren zischende Flammen geschlagen, als ob er ein feuerspuckender Drache wäre. Seine Finger waren blau gewesen, ähnlich wie die Schweißflammen, in der Werkstatt der Straßenbauverwaltung, wo er im Winter seine Schlittschuhe schleifen ließ. Das Brennen hatte nicht weh getan. Trotzdem war er schreckensstarr im Traum gewesen und hatte aufwachen wollen. Erst als Samuel ihn berührte, war das Feuer erloschen. Er zuckte zusammen und richtete sich auf. »Was ist los ?« fragte Samuel.
    »Ich weiß nicht«, antwortete Joel.
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